Aktuelle Urol 2001; 32(4): 155-159
DOI: 10.1055/s-2001-15791
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Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Historische Betrachtungen zur Hydatidentorsion

Historical Retrospect on Hydatid TorsionH. D. Nöske, B. M. Altinkilic, W. Weidner
  • Urologische Klinik der Justus-Liebig-Universität, Gießen
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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Die noch vor 100 Jahren im Dunkel der Geschichte verborgene Hydatidentorsion gehört heute als klar umrissenes, harmloses Krankheitsbild im Knabenalter zum klinischen Alltag. Während sie seit ihrer Entdeckung (1922) im französischen und angloamerikanischen Schrifttum einen lebhaften Niederschlag gefunden hat, fristete sie im Blätterwald der deutschen Urologie [1] [2] lange Zeit ein Schattendasein (Abb. [1]).

Der Begriff „Hydatide” stammt aus dem Griechischen und bedeutet Wassertropfen. Galen benutzte ihn im 2. Jahrhundert n. Chr. u. a. für Nieren- und Leberzysten; man denke an den Echinokokkus hydatidosus, die Finne des Hundebandwurmes.

Die Hydatiden am männlichen Genitale, besonders die am oberen Hodenpol sind mit dem Namen Morgagni [3] verknüpft (Abb. [2]). Giovanni Battista Morgagni (1682 - 1771) lehrte im 18. Jahrhundert 60 Jahre lang an der Universität Padua und gilt als Begründer der pathologischen Anatomie. Sein späterer Fachkollege Puccinotto (1794 - 1872) behauptete: „Wenn Morgagni jedem von ihm entdeckten anatomischen Gegenstand seinen Namen gegeben hätte, würde etwa ein Drittel der Teile des menschlichen Körpers nach ihm benannt werden.” Tituliert als „Fürst der europäischen Anatomie” war er mit 82 Jahren angeblich so frisch wie ein 50-Jähriger und arbeitete ohne Brille. Noch als Assistent von Valsalva (1666 - 1723) entdeckte er im Frühjahr 1703 am Hospital Santa Maria della Morte in Bologna die erste menschliche Hydatide am Nebenhodenkopf; im Stiel konnte er dabei ein kleines Blutgefäß identifizieren (Abb. [3]). 1705 folgte anlässlich der Sektion eines 60-Jährigen die Beobachtung großer, ebenfalls gestielter Hydatiden an beiden Hoden. Es waren insgesamt zehn Fälle aus den Jahren 1703 - 1718, die Morgagni [3] in seinem Hauptwerk „De sedibus et causis morborum” vorstellte (Abb. [4]). Er unterschied dabei ungestielte, lappige, solide Anhangsgebilde (Fimbriae) von gestielten bläschenförmigen (Hydatides) und glaubte, dass die ersteren geborsten (disruptae hydatides), d. h. durch Platzen der bläschenförmigen (integrae hydatides) aus diesen hervorgegangen waren. Dabei war er davon überzeugt, dass der Inhalt geplatzter Hydatiden eine Hydrozelenbildung verursacht, ganz im Sinne seiner wissenschaftlichen Hauptabsicht, die in der Leiche vorgefundenen Veränderungen mit den während des Lebens beobachteten Krankheitszeichen in Verbindung zu bringen. Wenn sich Hydatiden ohne eine Hydrozele finden, dann sei das Wasser schon resorbiert; bei einem Wasserbruch ohne assoziierte Hydatiden schwämmen die Gebilde unentdeckt in der Flüssigkeit oder seien meist ebenfalls resorbiert.

Die später immer wieder geäußerte Kritik an der Namensgebung „Hydatide” für die „Appendiculargebilde des Hodens” [4] (Luschka 1854) lässt sich auf die nicht eindeutige Charakterisierung der Veränderung durch Morgagni zurückführen, wenn er vermutet, dass es sich um Reste nicht geplatzter oder Überbleibsel älterer Hydatiden handelt. Noch 1973 sprach Dresner [5] in Chicago von einem Namensirrtum, weil die Hydatiden nur ganz selten zystisch strukturiert seien. Der englische Chirurg Cooper [6] (1768 - 1841) hat in seinem berühmten Werk „Observations on the structure and diseases of the testis” (1830, 1841; Abb. [5]) zum ersten Mal diese Organe illustriert und sie als knorpelige Körper bezeichnet, die am Nebenhodenkopf hängen (Abb. [6]). Auch Luschka beobachtete 1854 „Scheidenhautzotten” mit Neigung zur Verknorpelung und Verkreidung. In seinem Buch über die praktische Behandlung von Hodenkrankheiten betonte Curling 1843 in London [7], dass Morgagni die Bezeichnung „Hydatide” zu unrecht verwandt habe. Gosselin (1815 - 1887) führte darum 1848 den Begriff „appendix testis et epidididymis” ein [8], den heute vornehmlich die Amerikaner verwenden. Eine Hydatidenkrankheit des Hodens in damaliger Zeit veranschaulichte Cooper [6] in einer farbigen Abbildung, die im Nachhinein als kleinzystisches Hodenmalignom zu deuten ist (Abb. [7]). 1918 erschien eine umfassende Monographie von Franke [9] über die Morgagnischen Hydatiden in ihren multiplen Formen und Lokalisationen sowie mit einem historischen Überblick über diverse Ansichten bezüglich der Ätiologie. Dabei beschrieb er erstmals eine mehrfach um die Achse torquierte Morgagnische Fimbrie auf dem Nebenhodenkopf (Abb. [8]).

Im beginnenden 20. Jahrhundert sind die genetischen Beziehungen der Hydatiden geklärt und damit eine systematische Ordnung hinsichtlich ihrer variantenreichen Lokalisationen an Hoden und Nebenhoden möglich. So stellt die häufigste, früher immer als sessil bezeichnete Morgagnische Hydatide am oberen Hodenpol das persistierende kraniale Ende des Müllerschen Ganges dar. Die früher stets als gestielt beschriebene Hydatide am Caput epididymis stammt vom Wolffschen Körper ab. Das Gleiche gilt für das rudimentäre Hallersche Organ in der Furche zwischen Hoden und Nebenhoden, welches sich aus einer oberen und unteren Gruppe der Vasa aberrantia zusammensetzt. Auch das seltene Giraldèssche Organ [10], Paradidymis oder „le corps innomine” am distalen Samenstrang gelegen, leitet sich von Wolffschen Strukturen ab (Abb. [9]).

Die akademische Auseinandersetzung über die Natur und Nomenklatur der Hydatiden gewann eine neue Dimension, als man 1922, im Geburtsjahr der Hydatidentorsion, erkannte, dass diese Veränderungen auch Krankheitswert besitzen können. Die bis dahin gemachten Erfahrungen mit der gefährlichen Samenstrangtorsion und die daraus resultierenden operativen Revisionen der Skrotalorgane bewirkten, dass sich auch die Hydatidentorsion differenzialdiagnostisch aus dem bis dahin dominierenden Syndrom der akuten bzw. subakuten kindlichen Epididymo-Orchitis herauskristallisierte. Wie intensiv das medizinisch-wissenschaftliche Licht das neue Krankheitsbild erhellt hat, demonstriert die Tab. [1]. Es kam 1922 zu einer ungewöhnlichen Häufung von Publikationen, wobei Colt aus Aberdeen [11] mit knappem Vorsprung offiziell die Ehre des Erstbeschreibers erringen konnte. Doch die früheste Beobachtung stammt 10 Jahre zuvor vom Ombrédanne [12]. Bei einem 13-Jährigen mit dem klinischen Bild einer „orchite aigue primitive des enfants” war jedoch sein Interesse so sehr auf eine mögliche Samenstrangtorsion gerichtet, dass er die schwärzlich verfärbte Hydatide am Nebenhodenkopf nur beiläufig erwähnte. Die erste schematische Darstellung der Veränderung stammt von Mouchet 1923 in Paris [13]. Mit seiner persönlichen Erfahrung an 13 Fällen konnte er auf die Bedeutung der Krankheit hinweisen und sie als ätiologischen Faktor für die unklaren subakuten Entzündungen der Skrotalorgane bei Kindern und Jugendlichen verantwortlich machen. Bis 1932 wurden die meisten Hydatidentorsionen in Frankreich beschrieben (29 Fälle). Die erste Fallbeschreibung aus den USA stammt von dem Bostoner Chirurgen Foshee 1932 [14].

Die umfassendste Übersicht aus jener Zeit gibt uns Dix [15] aus London im Jahre 1931 (Abb. [10]). Auf der Grundlage von 47 Torsionsfällen aus der Weltliteratur schilderte er fast alle bis heute gültigen Wesensmerkmale der Hydatidentorsion und ihre Therapie. Demnach sind vor allem die 11 - 14-Jährigen „prepubertal boys” betroffen. Die Schmerzen treten ohne Bevorzugung einer Seite plötzlich und ohne äußere Ursache auf. Sie sind nicht so stark wie bei der Samenstrangtorsion. Als Richtlinie für ihre Heftigkeit führte er die Zeit an, die verstreicht, ehe der Patient ärztliche Hilfe aufsucht; es sind durchschnittlich vier Tage, in unserem Gießener Krankengut vergleichsweise zwei Tage [16]. Dix findet bei 42 Fällen eine stielgedrehte Hydatide am oberen Hodenpol. Diese lässt sich manchmal als kleiner dolenter Tumor palpieren; das später von mehreren amerikanischen Autoren, zuletzt von Dresner [5] beobachtete „blue dot sign” findet noch keine Erwähnung. Die differenzialdiagnostische Unterscheidung von der Samenstrangtorsion erscheint Dix nur von theoretischem Interesse, da in beiden Fällen eine Operation die Behandlung der Wahl war. Trotzdem räumt er ein, dass der Eingriff bei einer gesicherten Hydatidentorsion nicht immer gerechtfertigt sei, die, „obgleich sehr schmerzhaft, nicht bedenklich ist und bei der spontane Heilung möglich erscheint”.

Die Hydatidentorsion ist von amerikanischen Autoren mit vielen Publikationen und einer immer umfangreicher werdenden Kasuistik bedacht worden (Tab. [2]); auch wir beobachten an 135 eigenen Fällen (1976 - 2000) eine ständige Zunahme des Krankheitsbildes. Dennoch ist das Wissen über dieses Leiden seit Dix nicht wesentlich erweitert worden. Unsere langjährigen Erfahrungen deuten immerhin darauf hin, dass der Habitus der betroffenen Knaben von eher gedrungener-adipöser Natur ist. Darüber hinaus hat die Diagnostik mit modernen sonographischen Verfahren (Farbduplex-Sonographie) eine sinnvolle Bereicherung erfahren [16], so dass der urologische Notfall „akutes Skrotum” meistens entschärft werden kann und nicht jede Hydatidentorsion gleich dem Skalpell ausgeliefert werden muss.

Tab. 1Die intraoperative Entdeckung der Hydatidentorsion in Großbritannien und Frankreich Operateur Ort Op-Tag Pat.Alter Datum der Publikation M. Ombrédanne 12 Paris 22. 11. 1912 13 J. Mai 1913 A. J. Walton 17 London 10. 3. 1913 13 J. September 1922 C. E. Shattock 18 London 30. 9. 1918 14 J. April 1922 G. H. Colt 11 Aberdeen 21. 8. 1921 14 J. Januar 1922 A. Mouchet 13 19 Paris 12. 3. 1922 14 J. September 1922Mai 1923

Tab. 2Anstieg der Fallzahlen in der Weltliteratur Dix 15 GB 1931 47 Fälle Randall 20 USA 1939 73 Fälle Rolnick 21 USA 1939 78 Fälle Scott 22 USA 1940 85 Fälle Seidel et al. 23 USA 1950 107 Fälle Fitzpatrick 24 USA 1958 141 Fälle Litvak 25 USA 1964 163 Fälle Skoglund 26 USA 1970 321 Fälle

Abb. 1Torsion einer Morgagnischen Hydatide am oberen Hodenpol (Urologische Klinik Gießen, 1999).

Abb. 2G. B. Morgagni (1682 - 1771), Begründer der pathologischen Anatomie.

Abb. 3Erstbeschreibung einer Hydatide durch Morgagni in Bologna 1703.

Abb. 4De sedibus et causis morborum (Morgagni), 2. Ausgabe, Padua 1765.

Abb. 5Observations on the structure and diseases of the testis (Cooper), 2. Ausgabe, London 1841.

Abb. 6Erste Darstellung von Hydatiden am Nebenhoden: Cartilaginous bodies hanging from the caput epididymis by its pedicle (Cooper).

Abb. 7Hydatid testis immediately after its removal from the living body (Cooper).

Abb. 8Erste Darstellung einer mehrfach um ihre Achse gedrehten Hydatide am Nebenhodenkopf (Figur 3), G. Franke, Berlin 1918.

Abb. 9Mögliche Lokalisationen von Hydatiden.

Abb. 10Altersabhängigkeit der Hydatidentorsion nach Dix (London 1931).

Literatur

  • 1 Nöske H D, Scheibe H. Die Hydatidentorsion.  Münch Med Wochenschr. 1985;  127 222-224
  • 2 Nöske H D, Voigt W. Die Hydatidentorsion.  Pädiat Praxis. 1990;  40 67-71
  • 3 Morgagni G B. De sedibus et causis morborum per anatomen indagatis libri V. Venedig 1761
  • 4 Luschka H. Die Appendiculargebilde des Hodens.  Virchows Arch. 1854;  6 310-330
  • 5 Dresner M L. Torsed appendage, diagnosis and management: Blue dot sign.  Urology. 1973;  1 63-66
  • 6 Cooper A. Observations on the structure and diseases of the testis. London 1841
  • 7 Curling T B. Traité pratique des maladies du testicule; traduit par L. Paris: Gosselin 1857
  • 8 Gosselin L. Recherches sur les kystes de l'epididyme, du testicle et de l'appendix testiculaire. Paris: Arch gener de Med Tome 16 1848
  • 9 Franke G. Die Morgagnischen Hydatiden. Berlin: Karger-Verlag 1918
  • 10 Giraldès J. Recherches anatomiques sur le corps innominé.  J Physiol. 1861;  4 1-8
  • 11 Colt G H. Torsion of the hydatid of Morgagni.  Brit J Surg. 1922;  9 464-465
  • 12 Ombrédanne M. Torsions testiculaires chez les enfants.  Bull Mem Soc Chir. 1913;  38 779-791
  • 13 Mouchet A. Sur une variété d'orchite aigue de l'enfance due a une torsion de l'hydatide de Morgagni.  Presse médicale. 1923;  43 485-486
  • 14 Foshee C H. Torsion of the appendix testis.  J Amer med ass. 1932;  99 289-292
  • 15 Dix V W. Ueber Torsion des Hodenanhanges.  Z Urol Chir. 1931;  33 486-494
  • 16 Altinkilic B M, Nöske H D, Miller J, Weidner W. Die Klinik der Hydatidentorsion - Diagnostik und Therapie bei 104 konsekutiven Patienten.  Urologe [A]. 1999;  38 353-357
  • 17 Walton A J. Torsion of the hydatid of Morgagni.  Brit J Surg. 1922;  10 151
  • 18 Shattock C E. A case of torsion of the hydatid of Morgagni.  Lancet. 1922;  1 693
  • 19 Mouchet A. Torsion of the spermatic cord.  Paris méd. 1922;  45 68-73
  • 20 Randall A. Torsion of the appendix testis.  J Urol. 1939;  41 715-725
  • 21 Rolnick H C. Torsion of the hydatid of Morgagni.  J Urol. 1939;  42 458-462
  • 22 Scott R T. Torsion of the appendix testis.  J Urol. 1940;  44 755-758
  • 23 Seidel R F, Yeaw R C. Torsion of the appendix testis and appendix epididymis.  J Urol. 1950;  63 714-717
  • 24 Fitzpatrick R J. Torsion of the appendix testis.  J Urol. 1958;  79 521-526
  • 25 Litvak A S, Melnick I, Lebermann P R. Torsion of the hydatide of Morgagni.  J Urol. 1964;  91 574-575
  • 26 Skoglund R W, Mc Roberts J W, Ragde H. Torsion of testicular appendages.  J Urol. 1970;  104 598-600

Dr B M Altinkilic

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