Psychiatr Prax 2001; 28: 1-6
DOI: 10.1055/s-2001-15380
EDITORIAL
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Brauchen wir eine psychiatrische Gesundheitsökonomie? - Wozu wir eine psychiatrische Gesundheitsökonomie brauchen!

Do We Really Need Health Economics in Psychiatry? Why Do We Need Health Economics in Psychiatry?!!Ulrich Frick1 , Jürgen Rehm2,3,4 , Clemens Cording5
  • 1AG Versorgungsforschung, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Universität Regensburg
  • 2University of Toronto, Canada
  • 3Center for Addiction and Mental Health CAMH, Toronto, Canada
  • 4Institut für Suchtforschung, Zürich, Schweiz
  • 5Bezirksklinikum Regensburg
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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Begrenztheit der Ressourcen hat schon immer das Handeln in der Medizin beeinflusst, auch wenn in einer historisch besonderen Epoche, die zudem auch erst jüngst vergangen ist (in der boomenden Nachkriegszeit), dies kurzzeitig in einem kleinen Teil der Welt (den etablierten Marktwirtschaften) nicht offensichtlich war und daher manchmal vergessen wurde. Die demographische Entwicklung einerseits wie der technologische Fortschritt in der Medizin andererseits haben für einen grundlegenden Wandel gesorgt: 1950 betrug der so genannte Altenquotient (= Verhältnis von 20 - 59-Jährigen im Erwerbsalter zu den 60 und Mehrjährigen) in der Bundesrepublik 100 : 27, 50 Jahre später waren es bereits 100 : 40; für 2050 ist je nach Zuwanderungsprognose mit 100 : 75 bis 100 : 80 zu rechnen [1]. Damit einhergehend stiegen die Gesamtkosten, die bevölkerungsbezogen für die medizinische Versorgung auszugeben waren. Gleichzeitig kam es zu einer deutlichen Vermehrung medizinischen Wissens, basierend auf der Fortentwicklung diagnostischer und therapeutischer Technologien. Rationalisierungsgewinne in der ökonomischen Bilanz des Versorgungssystems traten im Unterschied zu anderen Dienstleistungszweigen in der Medizin vor allem deswegen nicht ein, weil nicht ein- und dieselbe Leistung durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt optimiert wurde, sondern zusätzliche Leistungsangebote geschaffen wurden („Fortschrittsfalle” der Medizin, vgl. [2]). Fazit: Es wird absolut und relativ mehr Geld für Gesundheit ausgegeben [3].

Folge: Während Käthe Strobel in den 70er Jahren als Gesundheitsministerin noch öffentlich „Epidemiologie” und „Epidemie” verwechseln durfte, weil das Ressort ein einflussloser Verschiebebahnhof für Parteikarrieren war, hat sich spätestens seit Seehofers Scharmützeln mit dem Ärztekammerpräsidenten die Gesundheitspolitik in die erste Reihe der öffentlichen Wahrnehmung und politischen Diskussion gedrängt, mit potenziell wahlentscheidendem Charakter. Dabei ist die Finanzierbarkeit der alles durchwirkende Leitfaden: Wer zahlt wie viel? Wer erhält was?

Die Psychiatrie in Deutschland hat sich bislang von der damit verbundenen Verschärfung in der Auseinandersetzung um Finanzierungsmodi, Bedarfs- und Planungsfragen, etc. in manchen Details (noch) abkoppeln können: Von der Einführung der Fallkostenpauschalen via „Australian refined diagnoses related groups” (AR-DRGs) als Abrechnungsmodus im stationären Sektor ist die Psychiatrie bis auf weiteres ausgenommen. Auch bei der methodischen Umsetzung der neuen Krankenhausvergleiche nach § 5 Bundespflegesatzverordnung wurde der Psychiatrie mit dem so genannten „ergänzenden Datenkranz” eine Sonderrolle zugestanden. Abgesehen davon, dass auch mit den gegenwärtigen Regelungen nach unserer Überzeugung keine fairen Vergleiche erreicht werden können [4] [5], sind derartige Sonderwege für die Psychiatrie durchaus zweischneidig: Die Frage, ob das insgesamt für die psychiatrische Versorgung von der Gesellschaft zur Verfügung gestellte Budget im Vergleich zur somatischen Medizin ausreichend, gerecht, wirtschaftlich, fair usw. ist, kann nämlich nicht mehr entschieden werden, wenn für die Psychiatrie andere Spielregeln gelten. Die Besonderheiten chronischer bzw. chronisch rezidivierender Krankheiten müssen auch in den anderen Disziplinen Berücksichtigung finden. Gesundheitsökonomische Bewertungen könnten hier (siehe Beiträge Üstün u. Chisholm sowie Wasem et al. in diesem Band) potenziell der Psychiatrie nützen.

Unserer festen Überzeugung nach wird diese gegenwärtige Sonderrolle der Psychiatrie keinen dauerhaften Bestand haben, und das soll sie im Selbstverständnis vieler Psychiater auch gar nicht. Wenn wir das Feld nicht anderen überlassen wollen, sondern es auch als ärztliche Aufgabe verstehen, im Rahmen eines gesellschaftlich vorzugebenden Budgets, eine bestmögliche Patientenversorgung sicherzustellen, müssen wir gesundheitsökonomische Forschungsmethoden und Ergebnisse mit einbeziehen, diskutieren und interpretieren (vgl. auch den Diskussionsbeitrag von W. Rössler, in diesem Band). Gegenwärtig besteht die Gefahr, dass das Feld der Gesundheitsökonomie einseitig und ohne Widerspruch von gesellschaftlichen Einzelakteuren besetzt wird, insbesondere von Krankenkassen und der Pharmazeutischen Industrie. Es liegt an uns Fachleuten, welchen Part wir in dem pluralistischen Konzert des Gesundheitswesens künftig spielen werden und ob wir das offensiv oder defensiv tun. Um von der defensiven Mauertaktik in eine kontrollierte Offensive überzugehen, müssen wir die Gesundheitsökonomie auch als unsere Aufgabe betrachten und dürfen sie nicht allein den anderen Spielern im Gesundheitswesen überlassen.

In diesem Sinne verstand sich das 1. Regensburger Symposium „Psychiatrie und Gesundheitsökonomie”, dessen Beiträge die Grundlage für dieses Sonderheft bilden, auch als ein Malente-Seminar, das die manchmal stark vom Spielstil ihrer Heimmannschaften geprägten deutschen Player taktisch koordinieren und auf ein gemeinsames Spielverständnis „einschwören” sollte. In diesem Sonderheft der Psychiatrischen Praxis finden Sie die schriftlichen, überarbeiteten Versionen der Beiträge von acht Referenten und von zweien der Diskutanten dieses Kongresses, der am 6. und 7. Juli in der mittelalterlichen Altstadt Regensburgs, ehemalige Reichsstadt und einstmals Sitz des „Immerwährenden Reichstages”, abgehalten wurde.

Literatur

  • 1  Statistisches Bundesamt. Bevölkerungsentwicklung bis zum Jahr 2050. Ergebnisse der 9. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung. Wiesbaden; Statistisches Bundesamt 2000
  • 2 Krämer W. Medizin muss rationiert werden.  Medizinrecht. 1996;  1 1-5
  • 3 Leidl R. Die Ausgaben für Gesundheit und ihre Finanzierung. In: Schwartz FW, Badura B, Leidl R, Raspe H, Siegrist J (Hrsg) Das Public Health Buch - Gesundheit und Gesundheitswesen. München; Urban & Schwarzenberg 1998: 245-258
  • 4 Frick U, Rehm J, Krischker S, Cording C. Length of stay in a German psychiatric hospital as a function of patient and organizational characteristics - a multilevel analysis.  International Journal of Methods in Psychiatric Research. 1999;  8 (3) 146-161
  • 5 Cording C, Kipp J, Kukla R, Kunze H, Saß H. Der neue Krankenhausvergleich nach § 5 BPflV und seine Anwendung in der Psychiatrie. Eine Stellungnahme der DGPPN, der Bundesarbeitsgemeinschaft der Träger Psychiatrischer Krankenhäuser (BAG) und der Aktion Psychisch Kranke (APK).  Nervenarzt. 2001;  72 63-66
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  • 21 Kluge H, Becker T, Kilian R, Kallert T W, Schutzwohl M, Leisse M, Angermeyer M C. Entwicklung eines standardisierten Dokumentationssystem für die komplementäre Psychiatrie.  Gesundheitswesen. 2000;  61 (7) 323-330

Dr. Ulrich Frick

AG Versorgungsforschung
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie der Universität Regensburg

Universitätsstraße 84

93042 Regensburg

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