Balint Journal 2001; 2(2): 31-34
DOI: 10.1055/s-2001-14683
Original

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Vom „Geist“ der Balint-Arbeit im Wechsel und Wandel der Szenerien[1]

Arthur Trenkel
  • Massagno
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Publikationsdatum:
31. Dezember 2001 (online)

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

meine Einführung zur diesjährigen Silser-Woche ist zugleich mein persönlicher „Schwanengesang“, weil ich mich nach dieser Woche von meiner hiesigen Aktivität verabschiede. Ich stehe somit vor der nicht alltäglichen Aufgabe, in einem Einführungsreferat gleichzeitig Abschied zu nehmen. Dieser Herausforderung suche ich gerecht zu werden, indem ich mich von der Kreisbewegung inspirieren lasse, wo Anfang und Ende ineinander fließen und dabei etwas umkreisen und einkreisen.

Was ich so einkreisen möchte, lässt sich nicht leicht in Worte fassen. Es ist ein Stück Leben, das sich um eine Arbeit rankt, die ich vor 32 Jahren hier in Sils Maria kennen gelernt habe, und die mich seither unentwegt begeistert hat. Das Begeisternde, den Geist dieser Arbeit, möchte ich so lebendig wie möglich einkreisen, freilich im Rückblick auf meinen eigenen Weg in der Zeit und im Raum der Erinnerung. Ich will meinen Erlebnisspuren folgen und nicht eine abstrakte Quadratur des Kreises versuchen, was allerdings nicht ausschließen soll, dass ich dennoch - vielleicht gerade dadurch - auch etwas Bleibendes im Blick auf die Sache, die Balint-Gruppen-Arbeit, einzukreisen hoffe.

Wer mich kennt, weiss, dass ich im Laufe der Jahre schon wiederholt dazu angesetzt habe, das Zentral-Lebendige der Balint-Erfahrung, mit der wir praktisch vertaut sind, auch in schriftlicher Sprache zur Darstellung zu bringen, immer und zunehmend motiviert, das Spezifische der Sache gründlicher zu fassen. Und die Spezifität der Balint-Gruppe hat mich besonders deshalb beschäftigt, weil ich hier eine Originalität erlebte, die ich gern vor allerlei Übergriffen und Vereinnahmungen bewahrt gesehen hätte. Lassen Sie mich dies in einer bildhaften Sprache verdeutlichen:

In meinem Blick gab es schon bald nach Balints Tod und seither mehr oder weniger dauernd Anlass, sich für das Eigenleben eines Kindes zu wehren, das aus einer illegitimen Verbindung zwischen Medizin und Psychoanalyse hervorgegangen war, und das - wie es bei so genannt natürlichen Kindern oft der Fall ist - eine eigentümliche Attraktivität auf seine Umgebung ausübte. Es regte sich vielerorts, speziell in den Familien beider Elternteile, der verständliche, aber nicht nur harmlose Wunsch, dieses Kind zu adoptieren, zu legalisieren und es zusammen mit andern Kindern der jeweiligen Sippschaft einzuschulen. Freilich verstanden sich diese Annektionsversuche stets als fördernde Entwicklungshilfe, die dem außergewöhnlichen um nicht zu sagen ‚wilden‘ Kind eine ordentliche Erziehung und dann auch eine entsprechende Anerkennung sichern sollte.

In weniger metaphorischer und doch nicht abstrakter Sprache nenne ich hier und heute das Eigenleben des Kindes, um dessen Erhaltung ich besorgt war und weiterhin bin, den „Geist“ der Balint-Arbeit, wobei ich diesen „Geist“ sogleich in Anführungsstriche setze, um auch die Bedeutung dieses Wortes nicht begrifflich einzuengen. Ich meine nämlich etwas eminent Offenes, einen freien Erfahrungs- und Erlebensraum, der allen systematisierenden Modellen, Theorien, Konzepten oder gar Schulen vorausliegt, und den es immerdar in unverstellter Ursprünglichkeit zu erhalten gilt. Der „Geist“ der Balint-Arbeit lebt in meinem Verständnis essenziell in diesem vorgelagerten Raum; Konzepte, Theorien, Modelle - auch psychologische, psychiatrische, psychosomatische und nicht zuletzt psychoanalytische - werden da allenfalls als Werkzeug gebraucht, nicht als Vehikel auf vorbestehenden Schienen. Im Erfahrungs-Raum des Balint-„Geistes“ sind wir selbst als Fahrende unterwegs, selbst als Erlebende in Bewegung, und so kann ich auch hier diesen „Geist“ gewiss nicht als unbeteiligter Beobachter einkreisen, sondern nur als einer, der jahrelang mit eigenem „Geist“ dabei war. Im Unterschied zu den Gepflogenheiten, die wir vom Wissenschaftsbetrieb her kennen, kann ich mein subjektives Erleben hier nicht draußen lassen, und diese Besonderheit gehört unverzichtbar zur Sache selbst, zu ihrer Spezifität. Der originelle „Geist“, den ich so in einem ersten Umgang zu umkreisen suchte, ist in meiner Perspektive kein objektiver Wissensgegenstand, er ist von anderer Art; um dieses ‚Andere‘ besser zur Geltung zu bringen, will ich mutig zu einer zweiten Kreisbewegung ansetzen.

Die Spur dieser Kreisbahn liegt noch inwendiger, d. h. sie ist noch persönlicher als die vorige. Ich will nämlich beim eigenen Anfang beginnen und Ihnen zu erzählen versuchen, wie ich selbst die erste Begegnung mit Balint und seiner Gruppenarbeit in Erinnerung habe. Ich konzentriere mich dabei auf zwei prägende Erfahrungen, in welchen beiden es um individuelles Erleben geht, das eine Mal beim Patienten, das andere Mal beim Arzt, konkret bei mir.

Im Blick auf den Patienten beeindruckte mich in Sils ein Umgang mit Symptomen, Befunden, Störungen und Krankheiten, der mir damals nicht ohne weiteres geläufig war, mich aber unmittelbar überzeugte. Alle Daten und Fakten eines Fallberichtes bekamen ganz selbstverständlich eine zusätzliche Dimension, indem sie sogleich in verbindenden Zusammenhang mit der erlebenden Person des Patienten gestellt wurden, gleichsam mit der subjektiven Innenseite der objektiven Befunde. Balints Haltung war für mich insofern überraschend, als er Falldarstellungen nicht als Experte einer unpersönlichen Fachperspektive beurteilte, sondern sich vorab für das authentisch Erlebte interessierte, sei es beim erzählenden Arzt oder der reagierenden Gruppe. Alle Äußerungen wurden als Beiträge von Beteiligen aufgefasst, auch die gescheitesten Interventionen in psychiatrischer oder psychoanalytischer Sprache. Ich gehörte oft selber zu diesen klugen Fachleuten und erinnere mich gut an mein ärgerliches Staunen, wenn mein Wissen über Depressionen, Projektionen, Konversionen usw. nicht die erwartete Resonanz fand und ich stattdessen gefragt wurde, was ich im gegebenen Zusammenhang mit diesen Wörtern präzisieren wolle. Alle unsere Meinungen wurden als Mosaiksteine zu einem lebendigen einsehbaren Gebilde gewertet, das als Ganzes dem besprochenen Patienten einschließlich seiner Krankheit gerecht werden sollte. Zur Illustration der unterschiedlichen Akzentsetzungen erinnere ich mich zum Beispiel, wie Balint in einer Großgruppe die Bedeutungsdifferenz herausarbeiten ließ zwischen einem Patienten, dessen Mutter kürzlich verstorben war, und - in anderer Perspektive - demselben Patienten, der inwendig, als einsamer Bub, über den unwiederbringlichen Verlust seiner Mutter traurig war. (Nebenbei bemerkt, geht es hier auch um die Unterscheidung zwischen „krankheits-“ und „patientenzentrierter“ Optik, d. h. um eine Gegensätzlichkeit, die fast unumgänglich mit Balints Namen verbunden wird, wobei sich allerdings meist das Missverständnis breit macht, als handle es sich um den Unterschied zwischen ‚somatisch‘ und ‚psychisch‘ in einer Bindestrich-Psycho-Somatik).

Nun will ich auch die zweite prägende Erinnerung an meine Silser-Anfänge erzählen; sie betrifft diesmal den Arzt bzw. mich selbst: Ich gehörte hier dank meinen psychoanalytischen Interessen von Anfang an zur Leitergruppe, hatte aber noch wenig Gruppenerfahrung. Natürlich war ich in der Begegnung mit Balint vom Wunsch erfüllt, als guter Schüler vom erfahrenen Lehrer zu profitieren, speziell auch was das Leiten von Gruppen angeht. Wie wird eine Balint-Gruppe geleitet? Wie macht man das richtig? So ungefähr fragte meine Beflissenheit, aber in dieser gewöhnlichen Fragestellung erlebte ich einen recht ungewöhnlichen Lehrer, der auf meine Erwartungen in dieser Form gar nicht einging, sondern „nur“ in freundlich hinterfragenden Gesprächen antwortete. „Jeder muss selber“ wurde mir letztendlich entgegen gehalten, wo ich gern verbindliche Anweisungen empfangen hätte. Der eifrige Schüler wurde frustriert, er bekam keine Belehrung im üblichen Stil, sondern „nur“ die Ermutigung, sich vor allem auf sich selbst zu verlassen. Freilich konnte ich diesem Wink vorerst nur zögernd folgen, verstand dann aber - so glaube ich - zunehmend besser, wie er gemeint war, und welch’ fundamentale ‚Lehre‘ sich in ihm verbirgt. Ich nannte später das für mich Entscheidende die „Umstellung der Einstellung“, was keine Umorientierung innerhalb von vorgegebenen Fachperspektiven meinte, auch nicht die Einführung einer zusätzlichen allgemeinen Sichtweise, etwa einer psychologischen oder psychodynamischen im Sprechzimmer des Somatikers. Ich verstand darunter eine andere Einstellung in und zu uns selbst im je eigenen Berufsfeld, unabhängig vom Fachbereich, in dem wir arbeiten. Was da „eingeführt“ wird, ist unsere eigene Erlebensfähigkeit in Beziehungen; unsere relationelle Wahrnehmung, speziell die vom Leib her mögliche, wird in professionellen Gebrauch genommen, statt grundsätzlich ausgeblendet. Wegleitend für meinen Einstellungswandel in diesem Sinn wurde mir gewiss auch das, was Balint von seinem „Durchbruch“ zum ‚Tuning-in‘ beschrieben hat, d. h. zur Einstellung des einfühlenden ‚Sich-Gebrauchen-Lassens‘ anstelle der herkömmlichen „Detektiv“-Haltung. Ebenso war mir Balints Metapher sehr hilfreich, wonach jeder und jede im praktischen oder klinischen Alltag nicht darum herum komme, auch „mit den eigenen Karten spielen“ zu lernen. Diese „eigenen Karten“ stehen doch bildhaft für das, was wir etwas nüchterner auch als Personalisierung unserer Berufsfunktionen bezeichnen können. Hierzu noch ein Zitat: „Die Geschehnisse, um die es uns geht“, schreibt Balint, „sind höchst subjektiv und persönlich, oft kaum bewusst“, wobei auch herauszuhören ist, dass das Entscheidende in dieser Dimension bei uns Therapeuten beginnt, bei unserer Bereitschaft, neben aller Fachkompetenz auch unser Erleben ins Spiel zu bringen. In meinem Horizont läuft es am Ende wieder darauf hinaus, dass „jeder selber muss“, wenn es gilt, den adäquaten Zugang zum individuellen Patienten zu finden. Die Beziehungserfahrung, wie wir sie in der Balint-Arbeit kennen lernen und professionell zu gebrauchen suchen, erschliesst sich in uns selbst, sie wird nicht von oben unterrichtet und geschult.

Dieses „nicht von oben“ gehört in meinem heutigen Blick zum Wesentlichsten am Balint-„Geist“, und es macht auch verständlich, dass dieser „Geist“ beim so genannten „Zeitgeist“ nicht gerade hoch im Kurs steht, denn dieser will doch nachgerade alles ‚von oben‘ in den Griff nehmen, ‚managen‘ und verwalten. Aber in diesem Kontext liegen für mich auch die tieferen Gründe, weshalb ich unsere authentische Balint-Erfahrung in der gegenwärtigen und speziell in einer künftigen Medizinal-„Landschaft“ nicht für „Schnee von gestern“ halten kann. Das Bedürfnis nach dem Gegenpol zur allgemeinen Machbarkeitseuphorie ist vermutlich schon mehr angewachsen als „man denkt“. Indessen scheint es mir heute wirklichkeitsgerechter, unseren früheren Optimismus in Bezug auf eine rasch ausgreifende Breitenentwicklung zurück zu stecken. In meiner Perspektive hat zur Zeit wieder mehr die Arbeit im Kleinen Vorrang vor noch so gut gemeinten Reformen in Schul-, Fach- und Standesbewegungen. Ich sehe den Aufbruch im Sinne des Balint-„Geistes“ heute mehr denn je als Sache von Einzelnen- also ‚von unten‘, nicht ‚von oben‘ -, als Aufbruch von Therapeuten und Pflegepersonen, die auch im Beruf sie selbst bleiben oder zunehmend werden wollen, um auch im Alltag in der eigenen Haut dabei zu sein.

Dass diese Zentrierung in sich selbst auch die optimale Voraussetzung ist, um den Anderen, den Patienten, in seiner Haut und seinem Erleben wahrzunehmen, dafür hat uns ebenfalls der Balint-„Geist“ den Sinn erschlossen. Im Hinblick auf den Beziehungsraum, der sich so zwischen zwei Personen (englisch: two bodies) öffnet, beschrieb Balint beim Patienten zwei ‚Kardinalbedürfnisse‘, nämlich dasjenige nach verstehendem Kontakt und dasjenige nach Schutz vor zu großer Intimität. Wir sehen inzwischen deutlicher, dass an jedem Beziehungsgeschehen, so auch in unsern Praxen, immer beide Seiten beteiligt sind, sodass solche ‚Kardinalbedürfnisse‘ selbstredend auch bei uns von maßgeblicher Bedeutung sind. Unser eigener Umgang mit menschlichen Grundbedürfnissen lässt sich so wenig generalisieren und standardisieren wie derjenige unserer Patienten.

In diesem Zusammenhang möchte ich jetzt ein Thema ansprechen, das wir ebenso meist nur bei den Patienten sehen und behandeln, das in der Beziehungsperspektive jedoch auch uns selber in gleichem Maße angeht. Ich meine die Ängste (psychoanalytisch gesprochen: die Widerstände), die den Balint-„Geist“ wie dessen Schatten begleiten und ihn - in meiner Sprache von vorhin - auch ‚von unten‘ behindern. Es soll hier vornehmlich von zwei Ängsten die Rede sein, die beide mit der „Umstellung der Einstellung“ einhergehen. Die erste bezieht sich auf die systemkritische oder geradezu subversive Dimension, die in unserer Gruppenarbeit verborgen ist und in der Veränderung der Teilnehmer früher oder später, mehr oder minder, in Erscheinung tritt. Balint nannte seinerzeit die unumgängliche Veränderung der Teilnehmer an seinen Seminaren eine „zwar begrenzte, aber wesentliche“, und ich meine im Rückblick, dass in diesem „wesentlich“ das Kritisch-Subversive bereits anklingt, das ich unter dem Aspekt der Angst etwas beleuchten möchte. Ich brauche zur Verdeutlichung nur wieder auf den „Zeitgeist“ zu verweisen, der uns gewiss keinen Einstellungswandel suggeriert, um in maßgebenden Bereichen auch „mit eigenen Karten spielen“ zu lernen. Er hat auch wenig Verständnis für Ärzte, die gegen „die Verewigung des Lehrer/Schüler-Verhältnisses“ nach Balints Formel ernste Vorbehalte hegen. Ein „Geist“, der sich auch an einer Erlebenswirklichkeit ‚von unten‘ und nicht allein an Richtlinien ‚von oben‘ orientiert, eine Praxis, wo wir auch darauf achten, was zwischen den Patienten und uns geschieht, kann im Lichte des herrschenden „Zeitgeistes“ doch nur als töricht oder aber als ketzerisch erscheinen. Speziell das eigene Beteiligtsein im Berufsfeld - erst noch leibhaft erlebt und nicht nur im Gehirn gedacht - ist im Blick auf zeitläufige Schulkriterien eine schlechthin unverständliche Grenzüberschreitung, und dies umso mehr als sie in subjektive Bereiche des Einzelnen und weg von objektiven Allgemeinverbindlichkeiten führt.

Vielleicht spüren Sie heraus, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie schwer es mir fällt, diese Entgrenzung und die entsprechende Schwelle in „korrekter Schulsprache“, in Hoch-Deutsch, also ‚von oben‘, zu beschreiben, während es in Wahrheit und in einer Sprache ‚von unten‘ einfach darum geht bzw. gehen würde, dass wir bei unserem Tun und Lassen in unseren jeweiligen ‚Werkstätten‘ auch noch selber vorkommen. Mit andern Worten: Worum es geht, wäre eigentlich selbstverständlich, nämlich dass wir stets auch mit eigenen Augen schauen, wie wir als Kinder schauten, bevor wir gelernt haben, nur noch „richtig zu sehen“ und die eigene Wahrnehmung entsprechend zu verdunkeln. Es dürfte indes kurzschlüssig naiv oder wieder recht subversiv klingen - wahrscheinlich ist von beidem etwas dabei - wenn ich sagen möchte, das ‚Subversive‘ am Balint-„Geist“ sei im Grunde das Selbstverständliche oder - etwas gehobener - das unterdrückte, verdrängte, verdeckte Selbstverständliche. Glücklicherweise kann ich mich auch bei diesem Einfall wieder auf Balint beziehen, denn was er als den „Mut zur eigenen Dummheit“ bezeichnet hat, scheint mir in die gleiche Richtung zu weisen, und dass solcher Mut als Voraussetzung zu fruchtbarer Arbeit gefragt ist, macht wohl deutlich, dass immer auch Ängste dabei sind, wenn persönliche Wahrnehmung ins Spiel kommt und ernst genommen wird.

Dies führt nun auch zur andern Angst, auf die ich speziell eingehen möchte. Sie bezieht sich ebenso auf die Öffnung in uns selbst, die uns der Balint-„Geist“ abverlangt oder zu der er uns ermutigt. Wieder handelt es sich um Entgrenzung in Richtung von Wirklichkeiten, für die sich die Tagesmeinung und das „Zeitgeist“-Denken selten erwärmt, und die ich etwas pauschal die existentiellen nennen will. Ich meine Grundwirklichkeiten wie unsere Vergänglichkeit und Sterblichkeit, die innere und äußere Geschichte unseres individuellen Lebens sowie die Fülle an Unbekanntem, Unbewusstem und Unsagbarem, das unabdingbar zur ‚conditio humana‘ gehört. Auch diese Entgrenzung weist bedrohliche Aspekte auf, und die dazugehörige Angst ist - zumindest in meiner Erfahrung - oft von erheblichem Einfluss auf das Gesund- und Kranksein des Einzelnen. In unseren beruflichen Erfahrungsräumen sind viele Fazetten existenzieller Angst gegenwärtig, soweit sie nicht wegrationalisiert sind, und das heißt doch, dass sie auch in den Beziehungserfahrungen unserer Gruppen ‚in vivo‘ „vorkommen“. Der Balint-„Geist“ ist auch von da her keine nur harmlose Sache, und es muss uns auch hier wieder deutlich werden, wie wenig dieser „Geist“ dazu disponiert ist, „Schule zu machen“. Vielleicht wird es auch verständlicher, warum sein Leben fortwährend gefährdet ist, sich durch eindämmende Zusatzkonzepte, Standards, Handlungsanweisungen etc. sterilisieren zu lassen. Das Beängstigende an diesem „Geist“ muss beinahe zwangsläufig Reaktionen in der Mentalität auf den Plan rufen, deren Antidot er einst war und stets von neuem ist.

Sogar dieses Kräftespiel, der Widerstreit zwischen öffnenden und verschließenden Impulsen ist in unserer Balint-Gruppen-Praxis anschaulich zu erleben, und nicht minder die Tatsache, dass wir alle an diesem Kräftespiel teilhaben bzw. von ihm betroffen werden. Jede Gruppensitzung öffnet uns die Bühne dazu, und die Einsichtsmöglichkeit erschließt sich in uns selbst als Beteiligte, wobei ich selbstverständlich auch die Leiter einschließe. Ich spreche von der eindrücklichen Erfahrung, dass wir alle persönlich und das heißt unterschiedlich reagieren, wenn das Gruppengeschehen intensives Erleben freispielt, das uns in besonderer Weise „unter die Haut geht“. Neutralisierende Verallgemeinerungen, Rationalisierungen, Erklärungen, Ratschläge erscheinen oft gerade dann als willkommene Auswege. Wir erleben so in unseren Gruppensitzungen gleichsam „am eigenen Leibe“, wie und wann solche Notausgänge beschritten werden, und auch, dass sie oft wirklich not-wendig sind, zumindest auf den ersten Anhieb oder im ersten „Durchgang“ eines vertiefenden Verstehensprozesses.

Machen uns diese Erfahrungen mit uns als Einzelnen nicht auch hellsichtiger, vielleicht auch nachsichtiger in Bezug auf Fluchtwege kollektiver Art, welche uns heute von Fach- und Standesorganisationen, von Politik, Staat und Gesellschaft, von Wirtschafts- und anderen Interessen eifrig ausgeflaggt und regelrecht vorgeschrieben werden? Wenn wir solche Einsichten ernst nehmen und sie uns nicht als „nur subjektive“ Phantastereien entwerten lassen, dann bewegen wir uns - sehr konkret und empirisch - in der Balint-Gruppe auf einer Schwelle oder Grenze, wo immer neu individuelles Erleben zur Wahrnehmung und Anerkennung drängt und gleichzeitig vom Arsenal sichernder Gegenkräfte aufgefangen, anonymisiert und entschärft werden will. Und wiederum: dass diese dynamische Schwelle, die wir so in der Gruppe erleben, auch beim Gesund- und Kranksein unserer Patienten ihre Bedeutung hat, kann uns in der Optik des Balint-„Geistes“ nicht lange verborgen bleiben. Es wird so noch einmal durchsichtig, dass dieser „Geist“ vor allem bei uns selber zuhause ist und dass wir für sein Leben zuständig sind, wenn uns daran liegt. Ich meine, dass wir ihm am besten entsprechen, wenn wir immer neu und selbstverständlich dort beginnen, wo wir auch selber lebendig sind und wo das „Zwischen“ im Umgang mit Patienten nicht schon in allgemeinem Denken darüber völlig aufgegangen ist. Das „immer neu“ wäre zuletzt das, worauf es ankommt, das „immer neu“ wäre - wenn ich es so sagen darf - das Bleibende im Wechsel der Szenerien, Inszenierungen und Akzidentien. Es wäre so wirklich ein „Geist“, den es „immer neu“ und durch uns zu beleben gilt, letztlich an jedem Praxistag, in jeder Gruppensitzung, in jeder Silser-Woche, hier auch noch in andern Räumen und Kreisen als den durch die Arbeit allein gegebenen. Ich danke Ihnen für das Zuhören auf den Spuren meiner Kreise, die, für mich, Anfang und Ende miteinander zu verbinden und, für alle, das bleibend Offene zu umkreisen suchten.

1 Zur Eröffnung der 39. Silser Studienwoche der Schweiz. Gesellschaft für Psychosomatische Medizin am 17. September 2000

    1 Zur Eröffnung der 39. Silser Studienwoche der Schweiz. Gesellschaft für Psychosomatische Medizin am 17. September 2000

    Dr. med. Arthur Trenkel





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