Aktuelle Urol 2001; 32(3): 111-112
DOI: 10.1055/s-2001-14366
EDITORIAL
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Blick über den Zaun: Methylenblau zur intraoperativen Darstellung nervaler Strukturen

Methylene Blue for the Intraoperative Demonstration of Nervous strictureR. Hohenfellner
  • Mainz
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
31. Dezember 2001 (online)

Anatomen und Neurophysiologen wenden seit einem halben Jahrhundert die sogenannte „Supravitalfärbung” zur Präparation nervaler Strukturen an [4] [6]. Klinikern ist diese geläufige Technik vom Studium her zweifellos bekannt, dennoch findet sie in der täglichen Praxis kaum Anwendung.

Ein möglicher Grund ist, dass - von den Rektumchirurgen abgesehen - nervenerhaltende Eingriffe erst seit etwa 20 Jahren [1] in der Urologie und Gynäkologie auf vermehrtes Interesse stoßen. In der Rektumchirurgie [5] und der Radikaloperation des Zervixkarzinoms [2] können durch Erhalt des Plexus pelvicus inferior postoperative Blasenentleerungsstörungen vermieden werden. Hinsichtlich der Sexualfunktion erwiesen sich die Arbeiten von Donohue als bahnbrechend und der Erhalt der sympathischen Fasern aus dem Grenzstrang zählt ebenso zum „gold standard” wie der der Nn. hypogastrici und des „neurovaskulären Bündels” bei der radikalen Prostatektomie und Zystoprostatektomie. Alle nervalen Strukturen sind intraoperativ mit freiem Auge erkennbar und, wie die Ergebnisse zeigen, auch präoperativ erhaltbar.

Mit Abstand schwieriger sind Rezidivoperationen, bei denen die Unterscheidung zwischen Lymphgefäßen und Bindegewebsstrikturen zeitraubend ist. Desgleichen können anatomische Varianten und venöse Blutungen eine eindeutige Identifizierung erschweren. Dies betrifft im Besonderen die perineale Prostatektomie und die Induratio penis plastica sowie Rezidiveingriffe bei der Hypospadie mit erneuter oder persistierender Chorda.

Die intraoperative Anfärbung von nervalen Strukturen mittels Methylenblau ist technisch einfach, wenig zeitaufwändig und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ohne Risiko für den Patienten. 2 ccm des Farbstoffes werden mit 8 ccm physiologischer Kochsalzlösung durchmischt und mit einem kleinen Stieltupfer auf die zu identifizierenden Strukturen aufgebracht. Nach etwa 3 Minuten färben sich diese blau an. Nach Kochsalzspülung verbleibt die Blaufärbung an den nervalen Strukturen nicht aber am umliegenden Bindegewebe, Lymphbahnen und Gefäßwänden. Der Vorgang ist bei fortschreitender Präparation beliebig wiederholbar.

Bislang erwies sich die oben geschilderte Technik zunächst im Tierversuch [3] später in einer Reihe von Zentren mit unterschiedlicher Zielsetzung als reproduzierbar. Bei nach Thiel präparierten Leichen erwies sich die Darstellung des autonomen Plexus pelvicus superior und inferior als spiegelbildlich auf die Situation übertragbar, wie sie sich bei der radikalen Beckenchirurgie von Rektum, Zervix sowie Blasen- und Prostatakarzinomen ergibt.

Möglicherweise ist der geschilderte „Blick über den Zaun in Nachbardisziplinen” (in diesem Falle Anatomie, Neurophysiologie sowie Gynäkologie und Rektumchirurgie) auch für die Urologie hilfreich, um in besonderen Situationen nervale Strukturen präparatorisch darzustellen und zu erhalten. Die bisherigen begrenzten Erfahrungen bedürfen der Bestätigung durch andere, um Notwendigkeit und Nutzen von Überflüssigem und leider so häufigem „Overkill” zu separieren.

Sollte sich das Verfahren „etablieren”, könnte es auch der objektiven Dokumentation von bislang wenig bekannten anatomischen Varianten, z. B. bei der Überkreuzung von Nervenfasern an der dorsalen Oberfläche der Prostata, dienen.

Herrn Professor K. Schürmann, Emeritus für Neurochirurgie der Universität Mainz und Herrn Professor J. Lang, Emeritus für Anatomie der Universität Würzburg sei an dieser Stelle für ihre maßgebliche Unterstützung gedankt, wenngleich beide die „Spätentdeckung” eines Standardverfahrens wohl eher dem „Bildungsdefizit” des Autors zuordnen.

Literatur

  • 1 Donohue J, Zachary J, Maynard S. Distribution of nodal metastases in nonseminomatous testicular cancer.  J Urol. 1982;  128 315
  • 2 Höckel M, Konerding M A, Heußel C P. Liposuction-assisted nerve-sparing extended radical hysterectomy: Ocologic rationale, surgical anatomy, and feasibility study.  Am J Obstet Gynecol. 1998;  178, No. 5 971-976
  • 3 Jünemann K-P, Martinez Portillo F J, Braun P M, Seif C, Leissner J, Grobholz R, Hohenfellner R. Intraoperative nerve fiber staining with methylene blue simplifies and improves surgical nerve-sparing procedures.  Urology. 2001;  in press
  • 4 Lang J. Contribution on the growth and aging of peripheral nerves.  Verh Anat Ger. 1965;  115 325-333
  • 5 Spreider O, Norstein J. Rectal Cancer Surgery. Springer 1997
  • 6 Steinmann W F. Makroskopische Präparationsmethoden in der Medizin. Stuttgart - New York: Thieme-Verlag 1982

Prof. em. Dr. med R Hohenfellner

Johannes Gutenberg-Universität

Langenbeckstraße 1
55131 Mainz