Gesundheitswesen 2001; 63(3): 119-120
DOI: 10.1055/s-2001-11983
Nachruf
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

In Memoriam Hans Schaefer (1906-2000)

Gründer der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und PräventionJ. G. Gostomzyk
  • Augsburg
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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Am 23. November 2000 verstarb Prof. Dr. Dr. h. c. Hans Schaefer, Physiologe und Initiator der Sozialmedizin in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, Gründer der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin (DGSMP), im Alter von 94 Jahren in Heidelberg. Damit endete das Leben eines außergewöhnlichen Wissenschaftlers und Arztes.

In einer Festveranstaltung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften am 12.10.1996 anlässlich des 90. Geburtstages von Hans Schaefer hatte der Heidelberger Medizinhistoriker, Weggefährte in der Medizinischen Fakultät und Freund, H. Schipperges, wie durch ein Prisma die thematische Partitur dieses wissenschaftlichen Lebens mit drei Titeln belegt: Hans Schaefer, der Physiologe, der Wissende um Gesundheit, der Wissensbildner; Hans Schaefer, der Gesellschaftsforscher und dann auch Gesellschaftskritiker und Hans Schaefer, der theologisch Suchende.

Hans Schaefer wurde am 13. August 1906 in Düsseldorf geboren, analog zu J. W. von Goethe „vom Vater hab ich ..., vom Mütterchen ...” schrieb er in seiner 1986 erschienenen Selbstbiografie „Erkenntnisse und Bekenntnisse eines Wissenschaftlers”: „... von meinem Vater habe ich vor allem die Lust an der Mathematik und am „Schmökern” gelernt, von meiner Mutter habe ich die Neigung und Begabung empfangen, und vor allem die Fähigkeit, zu Lieben.” Die Kindheit verlief „ohne Abstriche glücklich”. Er war Einzelkind und über die Mutter schrieb er: „Ich bin ihre Lebensleistung.” Die behütete Kindheit im stillen Elternhaus, der Vater war Inhaber einer Leinengroßhandlung im kleinen Ort Grafrath bei Krefeld mit ungeteilter Zuwendung und wohl auch hoher Erwartung an den Einzigen haben ihn offenbar fürs Leben geprägt. Der Realismus der Mutter war es, die sich energisch gegen den Wunsch des Sohnes aussprach, Literatur zu studieren und zur Bühne zu gehen. Die Großmutter postulierte für den hoffnungsvollen in freier Rede begabten Enkel in ihrem Teil der familiären Erwartungsrituale einen Reichstagsabgeordneten.

Hans Schaefer studierte Medizin in München, Bonn, Königsberg und Düsseldorf und absolvierte das Staatsexamen 1930 an der Universität Bonn. Die Weiterbildung, ob klinische Medizin oder ein theoretisches Fach, war nicht primär durch Neigung festgelegt. Als Medizinalassistent an der Medizinischen Poliklinik war er auch „Armenarzt”. „Was ich sah, war namenloses Elend, Kranke und Sterbende in Buden, in denen kaum Möbel standen. Hilflose Menschen, denen mein Rat nicht weiterhalf, wobei es der Rat eines im praktischen Leben völlig Unerfahrenen war.” Die Berufswahl entschied sich offenbar an dem Angebot einer bezahlten Planstelle im Institut für Physiologie. Dort promovierte Hans Schaefer 1931, habilitierte 1933 und war bis 1939 als Assistent tätig. 1932 hatte er, die große Chance der neuen Methode erkennend, die Kathodenstrahl-Oszillografie in die physiologische Forschung eingeführt. Als Ergebnis dieser neuen Forschungsrichtung schrieb er 1940-42 das Handbuch (2 Bände) der Elektrophysiologie.

1939 übernahm Hans Schaefer die Vertretung des physiologischen Lehrstuhls in Gießen, 1940 wurde er Abteilungsleiter und 1941 Direktor des Kerckhoff-Instituts in Bad Nauheim und Professor für Physiologie in Gießen.

Hans Schaefer hat während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland seine wissenschaftliche Karriere gemacht, war Mitglied der Partei (NSDAP) und galt während des Krieges als Forscher u. k. (unabkömmlich), was später viele Fragen aufgeworfen hat. Schaefer hat dazu offen Stellung genommen. Der Parteibeitritt 1933 war freiwillig, aber bereits 1934 habe er sich wegen des rücksichtslosen Umgangs mit Regimegegnern innerlich distanziert und sich auch entsprechend geäußert. Weil er sich u. a. negativ über den Kriegsausgang geäußert hatte, kam es zu einem Parteigerichtsverfahren (siehe H. Heiler „Universität unterm Hakenkreuz, Teil 1: Der Professor im Dritten Reich”), das er mit Hilfe einflussreicher persönlicher Freunde, u. a. durch die Berufung zum beratenden Physiologen beim Oberkommando der Kriegsmarine, ohne wesentlichen Schaden überstand, er blieb auch Direktor des Kerckhoff-Institutes. Im Dozentenbundsgutachten zu dem Verfahren war er als „etwas selbstüberheblich und eigenwillig, auch außerhalb seines Fachgebietes, was bei der bürgerlichen und religiösen Bindung des Pg Schaefer dem Nationalsozialismus zuwiderlaufen müsse”, charakterisiert worden.

In den Jahren 1948-50 entwickelte Hans Schaefer eine neue Theorie des Elektrokardiogramms. 1948 war er Mitbegründer der Max-Planck-Gesellschaft und 1950 nahm er den Ruf an die Universität Heidelberg als Direktor des Physiologischen Instituts an.

Der Lehrstuhl für Physiologie in Heidelberg bot ihm eine sichere Basis, von der aus er sich neuen Themen und Aufgaben zuwenden konnte. Seine Vorlesungen waren bei den Studenten sehr beliebt, u. a. wegen seiner Formulierungs- und Vortragskunst. Es scheint, als sei die neue Position für ihn der Ersatz der Bühne, des Theaters als moralischer Anstalt, wie er es sich wohl in seiner Jugend vorgestellt hatte. Die Forschung auf dem Gebiet der Physiologie stand von da ab offensichtlich nicht mehr im Mittelpunkt. Erst nach seiner Emeritierung 1974 wurde er 1974-93 als Physiologe wissenschaftlicher Berater der Berufsgenossenschaft Feinmechanik und Elektrotechnik in Köln, was ihm eine „relative Freizügigkeit” und den Kontakt zu den allgemein-gesellschaftlichen Fragen der Gegenwart aufrechterhielt. Später gestand er: „Da ich, seitdem ich die Max-Planck-Gesellschaft verließ, weiß, dass Wissenschaft für mich kein beherrschender Wert sein kann, sind es gerade in meinem Alter wieder die allgemeinen Fragen unserer Existenz geworden, die mich bedrängen”.

Von den zahlreichen offenbar selbstgewählten Themen und nationalen wie internationalen Betätigungen kann nur ein Teil aufgeführt werden:

1953-59 Gründung einer Kommission zur Reform des Medizinstudiums und Vorsitz in der „Spitzenkommission” und der „Vorklinischen Kommission”. 1956-59 Mitglied des Ausschusses „Ärztliche Ausbildung” der Bundesärztekammer. 1958 Gründung der Paulus-Gesellschaft, von 1968-74 deren letzter Präsident, als Nachfolge 1981 Gründung des Gesprächskreises Kirche - Wissenschaft und dessen Vorsitzender bis 1990. 1960 Gründung des Instituts für Sozial- und Arbeitsmedizin der Universität Heidelberg im Auftrag des Landtages Baden-Württemberg und von 1960-74 dessen Geschäftsführender Direktor, ehrenamtlich und als Direktor des Physiologischen Instituts. 1962 Gründung der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin, später wurde der Begriff Prävention zugefügt (DGSMP), dessen Präsident er von 1962-74 war. Schaefer orientierte sich dabei nicht an der Tradition einer sozialen Medizin/Sozialmedizin des 19. und des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Er entwickelte vielmehr eine auf Physiologie gestützte Theorie der Sozialmedizin, eine Soziophysiologie und befasste sich mit der Gesellschaft als äthiologischem Krankheitsfaktor. Besondere Beachtung schenkte er dem Konzept der Psychosomatik und die Überwindung des „Zerfalls der Medizin in eine psychische und eine somatische Grundhaltung” („Plädoyer für eine neue Medizin”). Er schlug die Brücke zur Soziologie. Die Medizinsoziologie sah er als Teil der Sozialmedizin. 1970-74 Vorsitz der Kommission Epidemiologie und Sozialmedizin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). 1970 Mitglied des Bundesgesundheitsrates, 1973-77 dessen Sprecher. 1974-92 Vorsitz der ärztlichen Kommission für elektrische Unfälle, Internationale Vereinigung für soziale Sicherheit. Aus der Tätigkeit als wissenschaftlicher Berater der Berufsgenossenschaft Feinmechanik und Elektrotechnik (1974-92) entstand die Schrift „Schwache Wirkungen als pathogenetisches Prinzip” (Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1996). 1977-84 Präsident der Deutschen Liga für das Kind in Familie und Gesellschaft, Ehrenpräsident 1984.

Hans Schaefer war bis an sein Lebensende der Suchende nach Antworten auf die allgemeinen Fragen unserer Existenz. Dazu zählt immer wieder die Frage nach einer Medizin zu vertretbaren Preisen und der sozialen Gerechtigkeit bei solidarischen Lösungsansätzen unserer Sozialversicherung. 1996 erschien die Schrift „Süssmilchs göttliche Ordnung der Natur - oder wie lange lebt der Mensch?”, 1997 „Die Entstehung von Krankheiten”, 2000 „Herzinfarkt-Report 2000” und schließlich hinterlässt er das Manuskript „Vom Nutzen des Salutogenese-Konzeptes”. In Schriften und Vorträgen der letzten Jahre suchte er immer wieder den Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie zu vertiefen. Auf dem Europäischen Forum Alpbach 1999 vertrat er in einer Diskussion mit dem Moraltheologen Prof. W. Beinert seine Schrift „Inkarnation: Sechs Thesen eines Humanphysiologen”. Im Verlag Styria (Graz, 2000) erschien sein letztes Buch „Gott im Kosmos und im Menschen”.

Für Hans Schaefer endete ein reiches Leben nach verhältnismäßig kurzer Krankheit in Übereinstimmung mit sich, seiner Umgebung und seinem Glauben. Er selbst resümiert: „Es sind die Dinge, die wir nicht mehr achten: Pflichterfüllung, Anspruchslosigkeit und wohl auch das Gefühl, irgendwo geborgen zu sein, was uns glücklich macht.” Hans Schaefer spürte offenbar bis zuletzt einen inneren Drang, sein umfassendes Wissen und den Schatz seiner Gedanken weiterzureichen. Er wusste, wer gibt, statt zu nehmen, ist besonders glücklich: „Denn Mitleid ist, um es mit Shakespeare zu sagen, gleich dem sanften Regen, der vom Himmel fällt. Es segnet zweimal: es segnet den, der nimmt, und den, der gibt.”

Prof. Dr. Johannes Gostomzyk
Präsident der DGSMP