Gesundheitswesen 2001; 63(3): 122-123
DOI: 10.1055/s-2001-11973
Eröffnung

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Sozialmedizin für die Zukunft

J. G. Gostomzyk
  • Gesundheitsamt Augsburg
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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Berlin als Tagungsort und das Thema der 36. Wissenschaftlichen Jahrestagung der DGSMP „Sozialmedizin für die Zukunft” sind dem ersten Jahr im neuen Millennium angemessen. Nirgendwo in Deutschland ist der schnelle Wandel in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft stärker zu spüren als in Berlin. Auch das Gesundheitssystem und damit die Sozialmedizin sind diesem Prozess unterworfen.

Für die Gegenwart können wir mit Befriedigung feststellen, dass die soziale Dimension der Medizin zunehmend Anerkennung findet, auch im öffentlichen Bewusstsein. Es ist selbstverständlich geworden, bei neuen Entwicklungen in der medizinischen Versorgung und bei Forschungsprojekten auch die sozialmedizinische Relevanz eines jeweiligen Vorhabens zu prüfen.

Innovative Entwicklungen in der Gesellschaft labilisieren, auf der Suche nach notwendigen neuen Lösungen, tradierte Gleichgewichte von Wertvorstellungen und Strukturen. Für die Sozialmedizin, deren Gegenstand die Wechselwirkungen zwischen Medizin und Gesellschaft in beiderlei Richtungen sind, lassen sich aus der Gegenwart für die Zukunft drei Problemfelder extrapolieren, für die Neugewichtungen gefunden werden müssen.

Gesundheit ist das Ergebnis individueller und gesellschaftlicher Anstrengungen. Sozialmedizin sieht sich der Aufgabe verpflichtet, neue Konzepte zu entwickeln für das Gleichgewicht zwischen individueller und gesellschaftlicher Verantwortung für Gesundheit, das gilt auch für die Ausgewogenheit zwischen finanziellen Belastungen und Leistungsgewährungen. Sozialmediziner hoffen dabei auf den Bestand solidarischer Lösungen, aber es ist uns bewusst, dass die Begriffe „solidarisch” und „sozial” immer wieder zeitnah neu zu interpretieren sind. Bei der Förderung der Ressourcen individueller und öffentlicher Gesundheit einschließlich der entsprechenden Strukturen ist ein neues Gleichgewicht zu finden. Der jahrzehntelang in der Bundesrepublik von der Gesundheitspolitik vernachlässigte Bereich öffentlicher Gesundheit hat durch die systematische Public-Health-Förderung in den letzten 10 Jahren im Theoriebereich einen beachtlichen Entwicklungsschub erfahren. Jetzt gilt es dem Public-Health-Paradigma auch in der Praxis zum Durchbruch zu verhelfen, d. h. der Verhütung von Krankheit, der Verlängerung des Lebens und der Förderung der Gesundheit durch organisiertes soziales Handeln. Die Sozialmedizin vertritt das Public-Health-Paradigma in der Medizin und sieht in ihrer Beteiligung an dieser neu formulierten Aufgabe eine Erweiterung ihres präventiven Auftrages um den Bereich moderner Gesundheitsförderung. Der demografische Wandel und die Dominanz chronischer Krankheiten im Krankheitspanorama und in der Mortalität erfordern eine Neugewichtung in der Verteilung der Ressourcen für Prävention und Gesundheitsförderung, Kuration und Rehabilitation. Entscheidend kann letztlich dabei nur sein, durch welche Allokation der zur Verfügung stehenden begrenzten Ressourcen der größtmögliche Nutzen für den Gesundheitszustand möglichst vieler Menschen erreicht werden kann. Dabei muss Vorrang haben, was Krankheiten an den Ursachen verhindert, statt sich helfend mit ihnen einzurichten.

Lassen Sie mich noch einige Anmerkungen zu Zukunftsaufgaben machen, die unsere Gesellschaft, d. h. die DGSMP, unmittelbar betreffen.

Wer die Zukunft gestalten will, muss den Nachwuchs gewinnen und fördern. Damit sind die Aufgaben der studentischen Ausbildung in Sozialmedizin sowie die postgraduierte Fort- und Weiterbildung einschließlich der notwendigen Implementierung eines Facharztes genannt.

Es wird eingewendet, und Studenten sehen es selbst so, dass mit dem Wissen von heute die Aufgaben in der Zukunft nicht bewältigt werden können. Aber Bildung ist Wissen, Wertorientierung und Motivation, und das ist für uns der Auftrag, die Studierenden der Medizin frühzeitig mit der Sozialmedizin vertraut zu machen, bevor in späteren Semestern ihre emotionale Offenheit für soziale Konzepte vom Lernstoff hoffnungslos überflutet ist. Sie brauchen Wertorientierungen für eine Medizin, die auch den Bedingungen des demografischen und sozialen Wandels unterworfen ist.

Die Fachvertreter der Sozialmedizin in den Medizinischen Fakultäten sollten, bevor der bereits viel diskutierte Entwurf der Novelle der Approbationsordnung für Ärzte (AOÄ) mit ihren weit reichenden Gestaltungsmöglichkeiten für die Fakultäten in Kraft tritt, Kooperationen mit den Vertretern anderer psychosozialer Fächer suchen, damit diese Gebiete neben den naturwissenschaftlichen und klinisch orientierten Fächern angemessen am Zeitbudget für die Lehre beteiligt werden.

Sehr geehrte Frau Minister Fischer, ich nutze die Gelegenheit, unserer Hoffnung auf baldige Verabschiedung des vorliegenden Entwurfes der AOÄ Ausdruck zu verleihen. In der Tagespresse ist zu lesen, dass es in dieser Legislaturperiode keine neue Gesundheitsreform mehr geben wird. Bleibt da nicht Zeit und Gelegenheit, eine neue AOÄ zu verabschieden, natürlich mit einer im Vergleich zur derzeitigen Ordnung stärkeren, d. h. der Problemlage angemessenen Berücksichtigung der psychosozialen Fächer in der studentischen Ausbildung?

Neben der Festigung der bislang erreichten Zusammenarbeit von sozialmedizinischer Forschung und Praxis sollten die in der medizinischen und sozialen Versorgung so zahlreiche und wichtige Begutachtung und die Versorgungsforschung eine stärkere Repräsentanz in den Medizinischen Fakultäten erhalten. Eine trägerunabhängige wissenschaftlich fundierte, sozialmedizinische Begutachtung ist eine wesentliche Voraussetzung für Gerechtigkeit, Sicherheit und Akzeptanz in der medizinischen Versorgung.

Es bleibt mir die angenehme Pflicht, bereits zu Beginn unseres Kongresses Herrn Prof. Brennecke und seinen Mitarbeitern für die hervorragende Vorbereitung und Organisation dieser Tagung zu danken. Uns allen wünsche ich einen erfolgreichen, ertragreichen und unterhaltsamen Kongress.

Prof. Dr. J. G. Gostomzyk

Präsident der DGSMP
Gesundheitsamt der Stadt Augsburg

Hoher Weg 8

86152 Augsburg

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