Gesundheitswesen 2001; 63(3): 137-139
DOI: 10.1055/s-2001-11967
Festvortrag
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Gesundheitsförderung und internationale Gesundheitspolitik

I. Kickbusch
  • New Haven, USA
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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Dankesrede anlässlich der Verleihung der Salomon-Neumann-Medaille der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention

Ich möchte mich sehr für diese ganz besondere Ehre bedanken. Für mich, die ich den größten Teil meines professionellen Lebens außerhalb Deutschlands verbracht habe, bedeutet diese Auszeichnung nicht nur professionelle Anerkennung, sondern auch ein Stück Heimat. Der Abschnitt der Public-Health-Geschichte, mit dem die Salomon-Neumann-Medaille verbunden ist, war mir immer besonders wichtig und hat mir stets ein Stück trotzige Hoffnung und Identität vermittelt, wenn es mir als Sozialwissenschaftlerin im medizinischen Umfeld gar zu einsam wurde. Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft - für mich war und ist Gesundheitsförderung nichts anderes als der Versuch, mit dem Wissen und im veränderten Kontext des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts dieses Diktum erneut umzusetzen.

Die großen Hoffnungen des WHO-Programms „Gesundheit für alle 2000” sind trotz vieler Fortschritte nicht erreicht worden. Stattdessen hat uns das Soziale und die soziale Ungleichheit - und damit die Public-Health-Geschichte - symbolträchtig und termingerecht zum Jahr 2000 und dem Beginn des 21. Jahrhunderts eingeholt. Der globale ökonomische und gesellschaftspolitische Umbruch zwingt dazu, sich wieder auf die Determinanten von Gesundheit zu besinnen und entwicklungspolitische wie gesundheitspolitische Strategien zu überdenken. Ich möchte von daher in dieser Dankesrede einige dieser neueren Ansätze, die versuchen, das Soziale in Bezug auf die Gesundheit neu zu fassen, vorstellen. Der Tod - sagte schon Rene¿ Villerme¿ - ist eine soziale Krankheit und weltweit sterben noch immer zu viele Menschen viel zu früh an verhütbaren Krankheiten. Hierin liegt das zentrale soziale Moment: Nie war die Welt reicher, nie war unser Wissensschatz um Gesundheit/Krankheit größer, nie gab es so viele einfache und preiswerte Lösungen für große Gesundheitsprobleme. Doch der große medizinisch-industrielle Komplex ist nicht darauf ausgerichtet, die Krankheiten der Armen zu behandeln, und die Forschung konzentriert sich auf die Herausforderungen in den reichen Ländern. In dieser weltweit zunehmenden Spannung zwischen dem Möglichen und dem Erreichbaren spielt sich die große soziale Herausforderung des Public Health heute ab.

Das Soziale wird in seiner globalen Dimension immer deutlicher. „Inequality is back on the agenda”, konstatiert die Weltbank im neuesten World Development Report 2000/2001 [1] mit dem Titel „Attacking poverty” und versieht diese Aussage mit dem verschämten Zusatz „Growth alone is not enough”, Wachstum allein genügt nicht. In Prag demonstrierten vor einigen Monaten anlässlich des Weltwirtschaftsgipfels 20 000 Menschen gegen die sozialen Folgen der Globalisierung und gegen „Wachstum um jeden Preis”. Kurz danach brachten die erhöhten Kosten für die Alltagsschlüsselressource Benzin in den reichen Ländern Europas die Bürger auf die Straße. Beide Proteste lassen die globalen Verteilungskämpfe vorausahnen, die uns noch bevorstehen, wenn es nicht gelingt, den entwicklungspolitischen Stillstand zu durchbrechen.

Unter der Bezeichnung „Qualität des Wachstums” wird nun die Interaktion zwischen vier Dimensionen gesellschaftlichen Reichtums zur Diskussion gestellt: Humankapital, Finanzkapital, Sozialkapital und Umweltkapital. Nur gemeinsam, so neuere Denkansätze, schaffen sie wirklichen Wohlstand und Lebensqualität und garantieren Nachhaltigkeit. Der globale Dialog fordert neue Formen einer gemeinsamen globalen Verantwortung angesichts der extrem ungleichen globalen Ressourcenverteilung, die von der Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen UNDP als obszön bezeichnet wird. Zum Beispiel entspricht der Besitz der 400 reichsten Individuen dem Einkommen von 45 % der Weltbevölkerung, 2,8 Milliarden Menschen leben von weniger als 2 $ am Tag. Die soziale Alltagslage dieser Menschen wird in einem Ergänzungsband zum Weltbankbericht mit ihren eigenen Worten vorgestellt. Unter dem Titel „Voices of the poor” beschreiben die Armen aus sechzig Ländern ihre persönlichen Erfahrungen mit einem Leben in Armut. Natürlich analysiert der Weltbankbericht auch die bekannten Korrelationen zwischen Armut und geringem Einkommen (working poor), Mangel an Bildung sowie Ernährungs- und Gesundheitsproblemen. Wirklich bedeutsam aber ist, dass der Bericht weit über die üblichen Armutsdefinitionen hinausgeht und sie um vier Dimensionen erweitert: Machtlosigkeit (powerlessness), Mangel an Mitsprache und Beteiligung (voicelessness), Verletzbarkeit (vulnerability) und Angst (fear). Aus diesem Ansatz heraus bestimmen sich die drei prioritären Bereiche der Armutsbekämpfung: das Ausweiten der ökonomischen Optionen, Ausweitung der persönlichen und politischen Einflussnahme (empowerment) und die Gewährung von Sicherheit und sozialen Auffangnetzen.

Stark beeinflusst worden ist diese Sichtweise durch die Arbeiten des Nobelpreisträgers für Ökonomie Amartya Sen [2] und seiner Konzeption einer sozial integrativen Entwicklungsstrategie („support led development”), die auf systematischen Investitionen in Bildung, Gesundheit und soziale Infrastruktur aufbaut. Zunehmend entwickelt sich ein Konsens, Gesundheit als wichtige gesellschaftliche und persönliche Ressource zu fassen. In der amerikanischen PublicHealth-Diskussion hat Lester Breslow [3] diesen Denkansatz als die dritte große Public-Health-Revolution ausgerufen. Gro Harlem Brundtland, die Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation WHO, hat vor kurzem eine „makroökonomische Arbeitsgruppe” unter Leitung des Ökonomen Jeffrey Sachs eingerichtet, deren Auftrag es ist, den Beitrag der Gesundheit zur ökonomischen und sozialen Entwicklung zu verdeutlichen. So wurde zum Beispiel kalkuliert, dass mindestens ein Drittel des Wirtschaftswachstums in den asiatischen Tigerstaaten auf verbesserte Gesundheit und Bildung zurückzuführen ist. Der Umkehrschluss gilt auch: Die ökonomische und soziale Entwicklung in Russland ist aufgrund der kurz- und langfristigen Auswirkungen der russischen Mortalitätskrise stark gefährdet. Zwischen 1992 und 1995 betrug die zusätzliche Frühsterblichkeit laut WHO-Berechnungen ca. 1,8 Millionen Tote, meist Männer im Alter von 16-65 Jahren. Im südlichen Afrika zerstört die AIDS-Krise die Entwicklungsgewinne der letzten zwanzig Jahre, in manchen Ländern sind bis zu 25 % der Bevölkerung infiziert und in den nächsten zehn Jahren wird Afrika ca. ⅕ seiner Arbeitskräfte durch AIDS verlieren. In beiden Fällen handelt es sich um soziale Katastrophen historischen Ausmaßes, deren volle Bedeutung noch nicht erfasst ist.

Ein Blick in die neuere Entwicklungsliteratur zeigt eine signifikante Deckungsgleichheit mit der Gesundheitsforschung über die sozialen Determinanten: Der reine Ökonomismus sowie die verengte Sicht auf Risikofaktoren machen einer komplexeren Sichtweise Platz. Eine große Anzahl von neueren Publikationen analysiert die Verbindung zwischen Gesundheit und Wohlstand auch für die entwickelten postmodernen Gesellschaften mit einem besonderen Blick auf die kumulativen Faktoren und synergistischen Effekte. Keating und Hertzman [4] beispielsweise postulieren, dass das Gesundheitskapital für arme wie reiche Gesellschaften zunehmend an Bedeutung gewinnt, es wird wichtiger Faktor in der Konkurrenz zwischen Nationalstaaten um die besten Investitionen und die besten Arbeitskräfte. Die Auffassung von Humankapital wird ausgeweitet und fasst lebenslange Gesundheit nicht nur als wichtigen Wirtschaftsfaktor, sondern auch als zentralen Bestimmungsfaktor von Lebensqualität. Gesundheitskompetenz (health literacy) - der Umgang mit Gesundheitsinformationen und die genaue Kenntnis immer komplexer werdender Gesundheitssysteme - wird zu einer zentralen persönlichen Entwicklungskompetenz während des gesamten Lebenslaufs.

Hierin liegt der erste wichtige Beitrag eines ressourcenorientierten Ansatzes: der sozialen Komplexität wird Rechnung getragen. Der Blick hat sich geweitet von der einfachen Vorstellung „mehr Wachstum  =  mehr Gesundheit” hin zu einer komplexen Interaktion. Damit stellen sich auch neue Ansprüche an die Gesundheitswissenschaften und die Epidemiologie. Nicht nur die Auswirkungen der Gesellschaft auf die Gesundheit gilt es zu analysieren, sondern auch den Beitrag der Gesundheit zur Gesellschaft. Gesundheit ist, wie Amartya Sen [2] verdeutlicht, nicht nur das Ergebnis guter Entwicklungspolitik, sondern auch ein wichtiger Bestimmungsfaktor mit vielfältigen Synergieeffekten für andere soziale Entwicklungsbereiche. Ein vernachlässigtes Beispiel ist der Beitrag von Gesundheit zur Demokratisierung: Gesundheitsprojekte sind oft erste Einübung in Empowerment und Partizipation, Motivation für Alphabetisierung und Einstiegsthema für die Selbstbestimmung von Frauen.

Der zweite große Beitrag eines ressourcenorientierten Ansatzes ist die Bedeutung, die dem sozialen Kapital einer Gesellschaft zugestanden wird. Dies gilt sowohl für die entwicklungspolitische Diskussion (die Weltbank hat eine Arbeitsgruppe und eine Website zu diesem Thema eingerichtet) wie für die Gesundheitsforschung und erneut zeigen sich eine Vielzahl von Synergien zwischen beiden Diskussionssträngen. Die Sozialkapitalforschung ermöglicht es, die Bedeutung positiver sozialer Güter und Ressourcen für die Gesundheit zu messen. Was Aron Antonovsky auf der individuellen Ebene versucht hat, mit dem Konstrukt der „sozialen Kohärenz” zu fassen, wird durch die Kategorie Sozialkapital auf die gesellschaftliche Ebene transferiert. Die Beiträge zur Sozialkapital-Forschung kommen aus vielen Disziplinen. Robert Putnam, der amerikanische Politikwissenschaftler, der den Begriff neu in die Diskussion eingeführt hat, widmet in seinem neuen Buch „Bowling Alone” [5] dem Zusammenhang zwischen sozialem Kapital und der Gesundheit ein ausführliches Kapitel, weil „von allen Bereichen, in denen ich den Konsequenzen des Sozialkapitals nachgegangen bin, ist in keinem die Bedeutung der sozialen Verbundenheit (social connectedness) so gut nachgewiesen wie am Beispiel Gesundheit und Wohlbefinden”. James Garbarino, ein bedeutender Entwicklungspsychologe, entwickelt das Konstrukt der sozialen Toxen und beschreibt die Auswirkungen eines „socially toxic environment” auf Kinder und Jugendliche [6]. Ichiro Kawachi und Lisa Berkman [7] zeigen in ihren epidemiologischen Untersuchungen eine enge Korrelation zwischen Vertrauen, Gegenseitigkeit und Gesundheitszustand.

Ein solcher Ansatz bringt die Diskussion um Gesundheit mitten hinein in die Diskussion um die Zivilgesellschaft, es geht um Partizipation und Empowerment. Eine so verstandene soziale Gesundheitspolitik wird Teil einer Gesellschaftspolitik, die sich an der von Ulrich Beck formulierten Frage „Wie wollen wir leben?” orientiert. Damit wird Gesundheitspolitik auf eine neue Weise politisch relevant: hinausweisend über Verteilungskämpfe im Zugang zu Dienstleistungen hin zu zentralen Fragen der sozialen Nachhaltigkeit unserer Gesellschaft. Sowohl Putnam [5] als auch Garbarino [6] machen Vorschläge zur Stärkung des sozialen Kapitals, Putnam beispielsweise entwirft eine „Agenda for social capitalists”. Besonders anschaulich ist ein für die USA entwickelter sozialer Gesundheitsindex („social health index”), der anhand von elf Indikatoren verdeutlicht, wie stark sich in den letzten zwanzig Jahren das soziale Wohlbefinden und das wirtschaftliche Wachstum in diesem Land auseinander entwickelt haben. Ein Blick über die Grenze nach Kanada zeigt aber bei Anwendung einer Variation dieses Indexes, dass hier trotz des viel besseren Wohlfahrtssystems ähnliche Trends wirksam sind.

Die Zeit erlaubt es mir nicht, auf die anderen beiden Kapitalbereiche einzugehen: das Finanzkapital und das Umweltkapital. Zwei Hinweise sollen hier genügen. Gesundheit wird in der internationalen Diskussion zunehmend als globales öffentliches Gut (global public good) angesehen - von daher gilt es, neue Finanzierungsformen und neue Umsetzungsformen einer globalen Politik zu finden. Der Gesundheitsbereich ist zur Zeit einer der innovativsten globalen Politikbereiche, der Formen und Möglichkeiten einer neuen globalen Sozialpolitik austestet. Neue Fonds und Finanzierungsmodelle sind im Entstehen, die zum Beispiel in Hinblick auf HIV/AIDS und Malaria die Entwicklung und Produktion von Impfstoffen vorantreiben sollen und auch die Ressourcen für die Abnahme garantieren. Die Umwelt- und Gesundheitsdiskussion trifft sich im Versuch, die ökologischen Folgewirkungen einer fehlgeleiteten Politik abzuschätzen. Clyde Hertzman hat Wackernagels „ökologischen Fußabdruck” (ecological footprint) auf den Gesundheitsbereich angewandt und kalkuliert, welches Land am „nachhaltigsten” Gesundheit für die Bevölkerung herstellt.

Es mangelt also nicht an neuen Denkansätzen, Erkenntnissen und Strategien. Die wieder auferstandene Ungleichheitsdiskussion zeigt meines Erachtens, dass die soziale Nachhaltigkeit zum großen Thema des 21. Jahrhunderts werden wird. Die globalen Risiken werden auf der lokalen Ebene immer spürbarer, die Lösungen liegen in der komplexen Interaktion von Politikfeldern und synergistischen Interventionen, auch wenn weder Politiker noch Wähler darauf vorbereitet zu sein scheinen. Gesundheitspolitik, ob national oder international, muss ebenfalls am sozialen Nachhaltigkeitsprinzip bemessen werden. Robert Putnam [5] drückt die erforderliche Umorientierung durch folgende Daumenregel aus: „Wenn Sie keinem Verein oder einer Gruppe angehören und morgen einer beitreten, so reduziert sich Ihr Risiko, im nächsten Jahr zu sterben, um die Hälfte.” Die Folgen für Präventionsansätze sind unübersehbar.

Die Lösung liegt natürlich nicht in der Wissenschaft und nur bedingt im professionellen Tun - die Gesundheitswissenschaft und die Gesundheitsberufe aber müssen verstärkt dafür eintreten, dass das Soziale als wichtiger und legitimer Teil der Gesundheitspolitik gesehen wird, so wie es die großen Public-Health-Reformer des 19. Jahrhunderts und frühen 20. Jahrhunderts taten. Die Gesundheitspolitik muss gestaltend in diesen gesellschaftlichen Bereichen tätig werden, sie gibt sich selbst auf, wenn sie losgelöst von den großen sozialen Fragen agiert, sie muss sie deutlich mitdefinieren. Die soziale Gesundheitsforschung zeigt uns deutlich drei zentrale Bestimmungsfaktoren für Gesundheit und Krankheit und damit drei große Interventionsbereiche für Lebensqualität und Wohlbefinden: soziale Ungleichheit, Sozialkapital und soziale Kohärenz. Sie ernst zu nehmen, würde zu einer ähnlich tief greifenden Umorientierung führen wie historisch gesehen vom Miasmaglauben hin zur Bakteriologie. Es gilt sich einzumischen - von Seiten der Medizin, wie von Seiten der Sozialwissenschaft, lokal ebenso wie international: Das Soziale ist manchmal die beste Medizin.

Literatur

  • 1 World Development Report 2000/2001 Attacking Poverty. The World Bank Oxford University Press 2000
  • 2 Sen A. Development as Freedom. New York; Knopf 1999
  • 3 Breslow L. From Disease Prevention to Health Promotion.  JAMA. 1999;  281 1030-1033 (11)
  • 4 Keating D P, Hertzman C. Developmental Health and the Wealth of Nations. New York; The Guilford Press 1999
  • 5 Putnam R. Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community New York; Simon and Schuster 2000
  • 6 Garbarino J. Raising Children in a socially toxic Environment. San Francisco; Jossey-Bass Publishers 1995
  • 7 Berkmann L, Kawachi I. Social Epidemiology. New York; Oxford University Press 2000
  • 8 Kickbusch I. The Development of International Health Policies: Accountability Intact. Social Science and Medicine 2000 51: 979-989
  • 9 Kickbusch I, Buse K. Global Influences and Global Responses: International Health at the Turn of the 21st Century. Merson M, Black RE, Mills A Introduction to International Health Gaitherburg ML; Aspen Publishers 2000
  • 10 Marmot M, Wilkinson R. Social Determinants of Health.  Oxford University Press. 1999; 

Prof. Dr. phil. Ilona Kickbusch

Yale University School of Medicine
Dept. of Epidemiology and Public Health
P.O. Box 208 034 New Haven

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