Klin Padiatr 2000; 212(5): 260-265
DOI: 10.1055/s-2000-9684
ORIGINALARBEIT

Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Prozesse der Körperwahrnehmung und deren therapeutische Nutzung in der Pädiatrie: Die Weiterentwicklung unspezifischer Entspannungsverfahren zum Training krankheitsspezifischer Beschwerde- und Symptomwahrnehmung

Therapeutical application of body perception in pediatrics: From unspecific relaxation therapy to the training of disease-specific symptom perception:M.  Noeker1 , U.  von Rüden2 , D.  Staab2 , F.  Haverkamp1
  • 1Zentrum für Kinderheilkunde der Universität Bonn
  • 2Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Pneumologie und Immunologie, Universitätsklinikum der Humboldt-Universität zu Berlin, Campus Virchow Klinikum
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

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Zusammenfassung:

Die Fokussierung auf Prozesse der Körperwahrnehmung ist ein wichtiger Zugang bei der therapeutischen Anwendung von Entspannungsverfahren (z. B. Progressive Muskelrelaxation, Autogenes Training, imaginative und hypnotherapeutische Verfahren, Biofeedback). Traditionell bezieht sich deren Einsatzbereich bei Kindern und Jugendlichen vorrangig auf psychosomatische Beschwerdebilder. Demgegenüber hat die neuere Verhaltensmedizin die Bedeutung von Prozessen der Wahrnehmung erkrankungsbedingter Zustandsveränderungen (Interoception) und deren korrekte Interpretation (Attribution) durch den Patienten als wichtige Voraussetzung für eine adäquate Krankheitsbewältigung (Coping) und ein richtiges Reagieren bei akuten Krankheitsverschlechterungen (Selbstmanagement) herausgearbeitet. Vor diesem Hintergrund erfährt die Erforschung und klinische Nutzung von Körperwahrnehmungsprozessen über die klassische Anwendung von Entspannungsverfahren hinaus ein neues, bedeutsames Anwendungsgebiet bei vielen somatischen Krankheitsbildern in der Pädiatrie. Dazu zählt die Beeinflussung von Prozessen der Aufmerksamkeitssteuerung, Wahrnehmung und Verarbeitung erkrankungs- oder behandlungsbedingter Schmerzen unterschiedlicher Genese. Besondere klinische Bedeutung gewinnt eine adäquate Interoception im Sinne einer rechtzeitigen, spezifischen und angstfreien Beschwerdewahrnehmung bei solchen Krankheitsbildern, die plötzlich im Alltag exarzerbieren können. Eine korrekte Symptomwahrnehmung unterstützt das Kind, eigenverantwortlich prompte Gegenmaßnahmen durchzuführen oder rechtzeitige Hilfe herbeizuholen. Als exemplarisch können die Obstruktionswahrnehmung beim asthmakranken beziehungsweise die Hypoglykämiewahrnehmung beim diabetischen Kind oder auch die Juckreizwahrnehmung beim Kind mit atopischer Dermatitis gelten. Die frühe Identifizierung einer epilepsiebedingten Aura oder der Erstsymptome einer beginnenden Synkope können dem Kind ein kurzes Zeitfenster zur Anfallsunterbrechung bieten. Ein Training zur krankheitsspezifischen Beschwerde- und Symptomwahrnehmung stärkt damit nicht nur die Kompetenz des Kindes in der Regulation akuter Erkrankungskrisen, sondern global seine Entwicklung von Autonomie, Kontrollerleben, Eigenverantwortlichkeit und Selbstwert.

Focussing on processes of body perception is a major pathway of relaxation therapies (progressive relaxation, autogenic training, guided imagery, hypnotherapy, biofeedback). Traditionally its application has been related to psychosomatic and psychotherapeutic indications. Beyond this classical approach, recent behavioral medicine has emphasized the relevance of interoception processes and adequate attribution patterns concerning bodily sensations as a major source of adequate coping and self-management with somatic illness. Clinical application may refer to an improved cognitive-behavioral pain management in disease and treatment related conditions. Especially children and adolescents suffering from chronic conditions that may exacerbate rapidly may benefit from an education approach that teaches them to perceive their disease-related complaints and symptoms accurately and to attribute them correctly. A precise, panic-free and immediate symptom recognition of sudden airway obstruction is an important precondition of adequate coping with acute asthma crisis and starting risk orientated antiasthmatic treatment. In a similar way, the child with diabetes mellitus may identify early signs of hypoglycemia by self-observation, recognition and discrimination of physical, vegetative and psychological indicators of blood glucose decline that enable the child to take appropriate countermeasures. Other childhood disorders that offer chances for symptomatic self-monitoring and self-control comprise atopic dermatitis or epileptic seizures. Training young patients in precise symptom recognition may not only empower them in handling acute crisis but also strengthen global development of autonomy, control beliefs, self-responsibility and self-esteem.