Dtsch Med Wochenschr 2000; 125(38): 1122-1128
DOI: 10.1055/s-2000-7575
Medizinisches Publizieren
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

»Evidence-Biased Medicine« - oder: Die trügerische Sicherheit der Evidenz

G. Rogler, J. Schölmerich
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

»O glücklich, wer noch hoffen kann, Aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen! Was man nicht weiß, das eben brauchte man, Und was man weiß, kann man nicht brauchen.«

J.W. Goethe, Faust, Der Tragödie erster Teil

Die pessimistische Sicht Fausts scheint sich im Titel der vorliegenden Überlegungen widerzuspiegeln, wenn von einer »trügerischen Sicherheit der Evidenz« die Rede ist. In der Medizin möchte man sich nicht mit einem »Meer von Irrtümern« oder trügerischen Sicherheiten zufrieden geben. »Evidence-Based Medicine« wird uns als fest verankerte Plattform der Sicherheit und Wahrheit im Meer der Irrtümer angepriesen. Sollte auch diese Sicherheit nur eine trügerische sein?

Wir haben uns in den letzten Jahren daran gewöhnt, den Begriff der »Evidence-Based Medicine« im Sinne eines Versuchs der Qualitätssicherung der modernen Medizin zu gebrauchen. Publikationen, die den Begriff Evidence-Based Medicine enthalten, haben an Zahl in den letzten Jahren exponentiell zugenommen. Leicht übertriebene Schätzungen gehen bei einer gleichbleibenden Zuwachsrate davon aus, dass in 10 Jahren alle medizinischen Abstracts den Begriff selbst enthalten oder sich in irgendeiner Form auf ihn beziehen [8]. Der Begriff ist positiv belegt. Er wird einerseits mit Qualitätsstandards für das ärztliche Handeln und andererseits mit einer Ausgrenzung von nicht nachvollziehbaren, unwissenschaftlichen, paramedizinischen Methoden assoziiert. Es mag sein, dass kritische Stimmen auch im Versuch, solche Strömungen auszugrenzen, wirtschaftliche Interessen erkennen und Evidence-Based Medicine eher in das Feld der standespolitischen Sicherung von Budgets einordnen. Tatsächlich möchten die Vertreter der Evidence-Based Medicine gerne über die Verteilung von Milliardenbeträgen mitentscheiden oder doch zumindest die Entscheidungskriterien vorgeben (z. B. [1] [4]). Die Reduktion der Evidence-Based Medicine auf ein Mittel der standespolitischen Ressourcen-Sicherung wird ihr jedoch keinesfalls gerecht. Diese Diskussion soll auch nicht das Thema der folgenden Ausführungen sein. Es geht hier vielmehr um die erkenntnistheoretischen Probleme des Begriffes »Evidenz«. Dies erscheint nur auf den ersten Blick für den medizinischen Alltag belanglos: Wenn nämlich der Begriff der Evidenz das ärztliche Handeln leiten soll, dann ist darüber nachzudenken, wie diese Evidenz sich begründet, um was es sich bei »Evidenz« handelt. Und um das zu verstehen, muss zunächst betrachtet werden, was denn Evidence-Based Medicine eigentlich »ist«, mit welchem Anspruch sie antritt und was sie leisten will. Unter dem Blickwinkel dieser immanenten Ansprüche kann man dann den Begriff der Evidenz selbst untersuchen. (Wer ist sich denn wirklich der Bedeutung des Begriffes »Evidenz« vollständig sicher?) Auf der neu gewonnenen Basis ist es nützlich, die Ansprüche der Evidence-Based Medicine nochmals zu beleuchten und die Probleme zu diskutieren, die diese Begriffsbildung mit sich bringt.

Literatur

  • 1 Alley P. Where should we be putting resources for surgery in the future?.  Lancet. 1999;  353 SI1-SI2
  • 2 Antes G, Bassler D, Galandi D. Systematische Übersichtsarbeiten. Ihre Rolle in der Evidenz-basierten Gesundheitsversorgung.  Dtsch Ärztebl. 1999;  96 C437-C441
  • 3 Clade H. Medizinische Leitlinien.  Dtsch Ärztebl. 1999;  96 C195-C196
  • 4 Culpepper L, Gilbert T. Evidence and Ethics.  Lancet. 1999;  353 829-831
  • 5 Eisen G. An Evidence-Based Approach for Gastroenterology.  Clin Perspect Gastroenterol. 1999;  2 55-59
  • 6 Fleck L. Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache - Einführung in die Lehre von Denkstil und Denkkollektiv. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980
  • 7 Hegenbart R. Wörterbuch der Philosophie. Humboldt-Taschenbuchverlag Jacobi KG, München 1984
  • 8 Hooker R. The rise and rise of evidence-based medicine.  Lancet. 1997;  349 1329-1330
  • 9 Kuhn T S. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973
  • 10 Lau J, Ioannidis J P, Schmid CH. Summing up evidence: One answer is not always enough.  Lancet. 1998;  351 123-127
  • 11 Linde K, Clausius N, Ramirez G. Are the clinical effects of homeopathy placebo effects? A meta-analysis of placebo-controlled trials.  Lancet. 1997;  350 834-843
  • 12 Naylor C D. Grey zones of clinical practice: some limits to evidence-based medicine.  Lancet. 1995;  345 840-842
  • 13 Popper K. Logik der Forschung. J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1994
  • 14 Raspe H. Evidence-Based Medicine: Modischer Unsinn, alter Wein in neuen Schläuchen oder aktuelle Notwendigkeit. In Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz; Abhandlungen der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse, Volume 1 Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1998
  • 15 Sackett D, Haynes R, Tugwell P. Clinical epidemiology. Little, Brown & Company, Boston 1985
  • 16 Stegmüller W. Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Kröner Verlag, Stuttgart 1978
  • 17 Teo K, Yusuf S, Collins R, Held P, Peto R. Effect of intravenous magnesium in suspected acute myocardial infarction; overview of randomised trials.  BMJ. 1991;  303 1499-1503
  • 18 Vandenbrouke J. Medical journals and the shaping of medical knowledge.  Lancet. 1998;  352 2001-2006
  • 19 Woods K, Fletcher S, Roffe C, Haider Y. Intravenous magnesium sulfate in suspected acute myocardial infarction: results of the second Leicester Intravenous Magnesium Intervention Trial (LIMIT-2).  Lancet. 1992;  339 1553-1558

Korrespondenz

PD Dr. med. Dr. phil. G. Rogler

Klinik und Poliklinik für Innere Medizin I Klinikum der Universität Regensburg

93042 Regensburg

Phone: 0941/944-7001

Fax: 0941/944-7002

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