Aktuelle Urol 2000; 31(5): 269-270
DOI: 10.1055/s-2000-7197
EDITORIAL
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

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Publication Date:
31 December 2000 (online)

Weltweit entscheiden Angebot und Nachfrage über Methode und Frequenz von Operationsverfahren. Einfache und reproduzierbare Techniken sind um so populärer, je schneller der Eingriff, je kürzer der stationäre Aufenthalt und je geringer die Kosten an Personal und Material.

Die weibliche Harnstressinkontinenz zählt mit zunehmender körperlicher Aktivität bis ins hohe Alter hinein bei ansteigender Lebenserwartung weltweit mit zu den kostspieligsten Erkrankungsformen aller nationaler Gesundheitswesen. Nach Jahren vergeblicher Suche nach neuen innovativen Methoden und Einführung von allenfalls neu modifizierten, alten Techniken erfüllt nun das „tension free vaginal tape”-(TVT)-Verfahren alle vorgenannten Voraussetzungen für eine einem Flächenbrand vergleichbare Verbreitung. Innerhalb von nur 4 Jahren nach der Erstpublikation durch Ulmsten [[1]] wurden mittlerweile weltweit über 70 000 Operationen durchgeführt. Von der Jahrhundert- bis zur Jahrtausendwende konnten sich nur wenige Operationsverfahren behaupten. Dazu gehören unter anderem pubovaginale Schlingen und die Kolposuspension nach Burch mit zahllosen, daran anknüpfenden Varianten und Modifikationen. Allerdings waren alle Versuche, gleichgültig ob Nadelsuspension, Leichenfaszie, „bone-anchors” oder laparoskopische Techniken, nicht in der Lage, die Original Stöckel-Aldridge-Schlinge [[2], [3]] bzw. die Kolposuspension [[4]] zu verdrängen. Gleiches gilt für das Marchall-Marchetti-Krantz-Verfahren [[5]]. Letzten Endes zeigten die Originaltechniken im Langzeitverlauf die besten Ergebnisse.

Die Problematik des Ersatzes von körpereigenem Schlingenmaterial durch Kunststoff liegt weniger am Material als in der Tendenz zur Erosion benachbarter Hohlorgane. Der zeitliche Abstand zwischen Implantation und Perforation ist schwer abschätzbar und von vielen Faktoren, wie Vaskularisation des Gewebes, hormonelle Einflüsse und Infektion bestimmt.

Beurteilt man ein Verfahren nach der Beherrschung möglicher Komplikationen, so ergeben sich unbeantwortete Fragen, wie Entfernung des Kunststoffes, Deckung von Defekten und Verschluss von Fisteln im Bereich der funktionellen Harnröhre bei dem TVT-Verfahren. Die euphorische und zugleich überstürzte Verbreitung des auf den ersten Blick scheinbar einfachen und lukrativen Eingriffes ruft neue Operateure auf den Plan, die keine oder nur wenig operative Erfahrung mit der Inkontinenzchirurgie haben und den „blinden” Teil der Operation und damit das Risiko von Blasen-, Gefäß- und Darmläsionen unterschätzen. In der Hand von Urologen wird darüber hinaus die gleichzeitig notwendige Korrektur eines Genitaldeszensus mit Zysto- oder Rektozele möglicherweise vernachlässigt. Je scheinbar einfacher eine Methode ist und je weiter die Indikation gestellt wird, um so mehr tritt die Selektion von Patienten und die Differenzialindikation in den Hintergrund, obwohl nur die auf den einzelnen Patienten individuell abgestimmte, komplexe Therapie dauerhaften Erfolg bringt.

Zahlenmäßig überwiegen Publikationen über Erfolge, wohingegen Berichte über schwer wiegende Komplikationen, wie Todesfälle durch Nachblutung ambulant behandelter Patientinnen und Banderosionen mit kaum korrigierbarer Inkontinenz, nur in der Lobby von Kongresshallen gehandelt werden. Inzwischen werden aufgrund zunehmender kritischer Stimmen erstmals auch offen Risiken eingestanden [[6]], die jedoch meist dem unerfahrenen Operateur oder der Abweichung von der Originaltechnik zugeschrieben werden. Auch von der Möglichkeit der ambulanten Durchführung des TVT-Verfahrens nimmt selbst der Erstbeschreiber jetzt Abstand.

Wer nicht über eingehende Kenntnisse der funktionellen Zusammenhänge der Inkontinenz verfügt und nicht die gesamte, komplexe Beckenbodenrekonstruktion beherrscht, sollte diese Zeilen als Warnung vor möglichen schwerwiegenden Konsequenzen verstehen. Es wäre mehr als bedauerlich, wenn die bisherigen Ergebnisse der TVT-Technik, eines Verfahrens, welches Patientinnen mit absehbarer Lebenserwartung zu einer neuen Form von Lebensqualität verhilft, durch diese Komplikationen, die sie gesellschaftsunfähig machen, überschattet würden.

Nur wenige, aber der Schwere nach unbeherrschbare Komplikationen führten dazu, dass der Enthusiasmus für das Zödlerband bei Frauen und später bei Männern deutlich gedämpft wurde, dass die Tefloninjektionen keinen nennenswerten Stellenwert erreichten, und dass zahlreiche, ungenannte andere Methoden nach kurzer Zeit wieder in Vergessenheit gerieten.

Zusammenfassend sind Patientenselektionen und die Kenntnis über mögliche Beherrschung von auftretenden Komplikationen entscheidende Parameter, an denen auch in Zukunft kein Weg vorbei führen wird.

Literatur

  • 1 Ulmsten U, Henriksson L, Johnson P, Varhos G. An ambulatory surgical procedure under local anesthesia for treatment of female urinary incontinence.  Int Urogynecol J Pelvic Floor Dysfunct. 1996;  7 85-86
  • 2 Stoeckel W. Über die Verwendung der Musculi pyramidales bei der operativen Behandlung der Incontinencia urinae.  Zentralbl Gynaecol. 1917;  41 11-19
  • 3 Aldridge A HH. Transplantation of fascia for relief of urinary stress incontinence.  Am J Obstet Gynecol. 1942;  44 398-411
  • 4 Burch J C. Urethrovaginal fixation to Cooper's ligament for correction of stress incontinence, cystocele, and prolapse.  Am J Obstet Gynecol. 1961;  81 281-290
  • 5 Marshall V F, Marchetti A A, Krantz. The correction of stress incontinence by simple vesicourethral suspension.  Surg Gynecol Obstet. 1949;  88 509-518
  • 6 Shah J. XV. EAU Kongress, April 12 - 15, 2000, Brussels, Belgium. 

R Hohenfellner

Urologische Univ.-Klinik Johannes-Gutenberg-Universität

Langenbeckstr. 1 55131 Mainz