Krankenhauspsychiatrie 2000; 11(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-2000-11276
EDITORIAL

Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die späten Früchte der EnquêteDie Psychiatrie hat ihre fachlichen und gesundheitspolitischen Ziele erreicht

Further Information

Publication History

Publication Date:
31 December 2000 (online)

 

Der Deutsche Bundestag hat in seiner 7. Wahlperiode am 25. 11. 1975 den „Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland” diskutiert und zur Kenntnis genommen. Damit kam die deutsche Psychiatriereform - im Vergleich zu anderen vergleichbaren Ländern - zwar verspätet aber doch nachhaltig und mit großem Erfolg in Gang. In der Präambel der Enquete waren an vier Grundübel in der Versorgung psychisch Kranker und Behinderter als „brutale Realität” angesprochen;1. die unzureichende Unterbringung psychisch Kranker und das Fehlen komplementärer Einrichtungen,

2. Defizite bei der Versorgung von Kindern und Jugendlichen sowie Alkohol- und Drogenabhängigen,

3. unzureichende psychotherapeutische Versorgungskapazitäten,

4. die mangelhafte Koordination der verschiedenen psychiatrischen Dienste.

Die damals festgestellten Mängel sind heute weitestgehend beseitigt. Dazu haben die Modellprogramme der Bundesregierung, die auf Empfehlungen der Expertenkommission aus dem Jahre 1988 beruhen, beigetragen, ebenso wie die in einigen Bundesländern konzipierten Landespläne für Psychiatrie.

Aber mindestens ebenso wichtig wie die Mängelbeseitigung in der damaligen Psychiatrie war die mit der Psychiatriereform einhergehende und durch sie bewirkte Veränderung im gesellschaftspolitischem Bewusstsein und der daraus resultierende Einfluss auf Entscheidungsprozesse.

Die Folgen waren unter anderem:- In dem vor wenigen Wochen in Kraft getretenen Gesundheitsreformgesetz 2000 wurde die Personalverordnung Psychiatrie (PsychPV) als ein sogenannter Ausnahmetatbestand definiert, der von der Budgetdeckelung ausgenommen ist.

- Den psychiatrischen Abteilungen wurde die Einrichtung von Institutsambulanzen ohne kassenärztliche Bedarfsprüfung zugestanden.

- Die Soziotherapie wurde in die Leistungspflicht der Kostenträger aufgenommen und

- psychiatrische Erkrankungen wurden nicht in die ansonsten für fast alle Bereiche der Medizin geltende Fallkostenpauschalierung mit einbezogen.

Alle diese nunmehr gesetzlich festgelegten Regelungen waren von verschiedenen psychiatrischen Interessenverbänden einmütig gefordert worden. Das Besondere, die neu gewonnene Position der Psychiatrie in unserer Gesellschaft bezeichnende ist aber, dass die Interessenverbände Gehör fanden und ihre sehr wohl berechtigten Forderungen ohne Abstriche in das Gesundheitsreformgesetz einbezogen wurden und dies, obwohl sie zwar nur in bescheidenem Umfang aber doch das Gesundheitsbudget belasten. Zu diesen späten Früchten zählt auch, dass jetzt die sozialtherapeutischen Abteilungen an Justizvollzugsanstalten eingerichtet werden, die in der Strafrechtsreform vom Jahre 1976 bereits gefordert waren.

In einigen Bereichen ist es in der Folge der Psychiatrieenquête auch zu unübersehbaren Fehlentwicklungen gekommen, wie z. B. bei der beabsichtigten Eingliederung von chronisch Kranken in unsere Gesellschaft. Statt dessen kam es vieler Orts nur zu einer Umhospitalisierung aus Anstalten in Heime ohne Zuwachs an Lebensqualität für die Betroffenen.

Ein weiteres Beispiel: Die von den Vätern der Psychiatrieenquête monierte unzureichende Versorgungskapazität im Bereich der Psychotherapie ist mit der in den letzten Monaten erfolgten Approbation von zusätzlichen psychologischen Psychotherapeuten überkorrigiert worden. Und schließlich sei beispielhaft noch erwähnt, dass die mittlerweile flächendeckend geschaffenen sozialpsychiatrische Dienste aufgrund standespolitischer Kompromisse nicht in der Lage sind, diagnostisch und insbesondere therapeutisch tätig zu sein.

Eine Konsequenz aus der zusätzlichen Approbation von psychologischen Therapeuten ist, dass die Fraktion der Psychiater, Nervenärzte und ärztlichen/psychologischen Psychotherapeuten nunmehr zur zweitstärksten Fraktion in den deutschen Ärztekammern geworden ist. Auch dies ist ein äußeres Zeichen für die neu gewonnene gesundheitspolitische Stärke der Psychiatrie in unserer Gesellschaft.

Ein Stillstand im Bemühen um eine angemessene psychiatrische Versorgung würde jedoch einen Rückschritt bedeuten. Statt einer weiteren Psychiatrieenquête, wie sie gelegentlich bereits gefordert wird, sollte eine z. B. in regelmäßigen Abständen fortgeschriebene Berichterstattung zur Lage der Psychiatrie treten. Dies sollte in kürzeren Abständen von etwa einigen Jahren erfolgen, um die im Laufe der Zeit deutlich werdenden Fehlentwicklungen rascher als es in der Folge der Psychiatrieenquête möglich war, entgegenwirken zu können. Dringlich erscheint aus heutiger Perspektive auf jeden Fall eine Reform der Heimstrukturen und der komplementären Einrichtungen, wobei es hier - anders als damals bei der Psychiatrieenquête - primär um qualitative Reformziele geht.

Wie die Stichtagserhebungen im Rahmen der Hospital-Management-Studie zeigten, ist rund die Hälfte aller psychiatrisch Kranken in nicht psychiatrischen Abteilungen und Krankenhäusern aufgenommen. Mittlerweile sind jedoch die Fachkrankenhäuser und Abteilungen für Psychiatrie und Psychotherapie für diese Patienten und deren einweisende Ärzte - die bislang psychiatrische Kliniken aus durchaus nachvollziehbaren Gründen mieden - ebenso gut gerüstet wie die ambulanten und komplementären psychiatrischen Versorgungsbereiche. Die brutale Realität der 70-er Jahre hat sich zu einer leistungsfähigen und humanen Psychiatrie entwickelt, die uns auch für die Zukunft zu optimistischen Erwartungen berechtigt. Die psychiatrische Versorgung hat eine sichere Basis gewonnen, um den neuen Herausforderungen, die aus einer steigenden Migration aus der epidemiologischen Entwicklung und aus der steigenden Lebenserwartung unserer Gesellschaft erwachsen, angemessen zu begegnen.

H. E. Klein, Regensburg[1]

    >