Gesundheitswesen 2000; 62(3): 117-118
DOI: 10.1055/s-2000-10478
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Der Beitrag der Sozialmedizin zu Public Health

J. G. Gostomzyk
  • Augsburg
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

Die 35. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) wurde 1999 in Freiburg im Breisgau im Rahmen des Internationalen Kongresses „Public Health - Entwicklungen und Potenziale” veranstaltet.

Die oft als nur vorläufig bezeichnete Übersetzung des Begriffes Public Health mit Gesundheitswissenschaften macht eine inhaltliche Definition der Begriffe Public Health und Sozialmedizin erforderlich, um die in Deutschland historisch gewachsene gemeinsame Schnittmenge ihrer Anliegen zu verdeutlichen. Public Health wird definiert (Achensen-Report) als die Theorie (Wissenschaft) und Praxis (Kunst), durch strukturierte gesellschaftliche Anstrengungen Krankheiten zu verhindern, Leben zu verlängern und Gesundheit zu fördern. Gegenstand der Sozialmedizin ist die spezifische Wechselwirkung zwischen Krankheit (bzw. Gesundheit) und Gesellschaft in beiderlei Richtungen (Hans Schaefer, 1972) bzw. zwischen Gesellschaft und Medizin (Jean Charles Sournia, Paris, 1978). Die Definitionen haben einen erstaunlichen Gleichklang und Fülgraff stellt fest, dass Sozialmedizin Public Health im Bereich der Medizin ist. Gesundheitswissenschaften definieren sich außerhalb der Medizin mit dem Schwerpunkt der Gesundheitsförderung und stellen eine Verbindung her zur Tradition der Sozialhygiene in Deutschland (Badura). Im Medizinstudium vermittelt die Sozialmedizin die für Mediziner wichtigen Inhalte dieser Fächer.

Jahrestagungen haben im Leben wissenschaftlicher Fachgesellschaften wichtige Funktionen, die auch einem gewissen Wandel unterliegen. Die bloße Information über Daten und Forschungsergebnisse rechtfertigt kaum noch den für Organisatoren und Teilnehmer erheblichen Aufwand eines Kongresses. Der Austausch wissenschaftlicher Ergebnisse verläuft heutzutage unmittelbarer und schneller, Internet-Journals, News-Gruppen und Diskussionsforen haben die Geschwindigkeiten des Informationsaustausches auf das Niveau von Tageszeitungen gehoben.

Die wichtigste Funktion eines wissenschaftlichen Kongresses liegt wohl in der persönlichen Begegnung mit Menschen, deren Arbeit man kennt, aber von deren Aussagen man sich auch persönlich überzeugen lassen möchte. Nach Aristoteles (384-322 v. Chr., „Rhetorik”) überzeugt ein Redner auf dreierlei Wegen: durch seinen Charakter, durch die Erzeugung einer Stimmung beim Zuhörer, die Botschaft aufzunehmen, und indem er Wahres oder Wahrscheinliches aufzeigt. Zum Charakter ist zu ergänzen, dem Tugendhaften glauben wir lieber und schneller, ganz besonders aber da, wo keine letzte Gewissheit ist, sondern Zweifel herrscht. Hinzu kommt die für den einzelnen Kongressteilnehmer nicht zu unterschätzende positive Verstärkung in einer Gruppe, deren Mitglieder gleichartige wissenschaftliche oder praktische Interessen verfolgen. Es muss also gute Argumente dafür geben, das wichtige Ereignis einer Jahrestagung mit anderen Gesellschaften gemeinsam zu veranstalten und im Interesse des gemeinsamen Anliegens an einem Tag auf ein eigenes Programm weitgehend zu verzichten. Ich will hier drei mir wichtig erscheinende Gründe nennen:

Bei der Gründung und dem Aufbau der Public Health-Postgraduierten-Studiengänge und der fünf PH-Forschungsverbünde mit der Entwicklung von Forschungsstrukturen an rund 12 Universitäten in den letzten zehn Jahren haben Sozialmediziner und die DGSMP wesentliche Beiträge geleistet. Deregulierung und Reformgesetze zur gesetzlichen Krankenversicherung aktualisierten auch für die deutsche Sozialmedizin die Frage nach der Ausgestaltung öffentlicher Gesundheit einschließlich ihrer Förderung entsprechend der Ottawa-Konzeption von 1986. Insbesondere Sozialmediziner an den Hochschulen förderten die neue Entwicklung öffentlicher Gesundheit nicht nur in der Gründungsphase, sondern beteiligten sich auch in der Folgezeit aktiv an einschlägigen Projekten. Bemerkenswert jedoch erscheinen der zeitlich parallel einhergehende Zuwachs und der Wandel sozialmedizinischer Aufgaben in den medizinischen Diensten der Sozialversicherungen und des öffentlichen Gesundheitsdienstes. In naher Zukunft, wenn der Forschungsförderschwerpunkt Public Health ausläuft, werden verstärkt gemeinsame Anstrengungen notwendig sein, das Public Health-Anliegen in Forschung, Lehre und Praxis zu erhalten und weiterzuentwickeln. Es gibt einen versorgungsorientierten Grund für die DGSMP, sich an der Public Health- Tagung zu beteiligen. Es ist die Frage zu klären, was bringt Public Health dem Gesundheitswesen, dem Patienten, den Vertragspartnern in der Sozialversicherung, speziell in der Krankenversicherung? Will man sich nicht mit dem Auftrag der Förderungsauflage des Bundes, „dauerhafte edukatorische und forschungspolitische Strukturen für Public Health/Gesundheitswissenschaften zu schaffen” (Schwartz), begnügen, dann müssen verstärkte Anstrengungen unternommen werden, damit Public Health auch als unmittelbar praxisrelevantes Anliegen effektiver wird. Ähnlich stellt sich für den öffentlichen Gesundheitsdienst die Frage nach der zukünftigen Praxisrelevanz von Public Health in diesem Bereich. Der öffentliche Gesundheitsdienst in Deutschland sieht sich in der Tradition der Sozialhygiene, der öffentlichen Gesundheitspflege und der sozialen Medizin, die manchmal etwas abgrenzend mit dem Begriff Old Public Health bezeichnet werden.Wenn man in New Public Health auch einen praxisnahen anwendungsorientierten Auftrag im Gesundheitswesen sieht, dann ist dieser mit dem Begriff „Gesundheitswissenschaften” nicht optimal übersetzt, eben weil es nicht ausschließlich um Wissenschaft geht. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Förderung von Gesundheit impliziert auch nicht die Notwendigkeit einer Abgrenzung von der Medizin. Im Gegenteil, ich halte diese Abgrenzung für nicht förderlich für das Gesamtanliegen, d. h. für die Förderung von Gesundheit und Lebensqualität sowie die Bewältigung von Krankheit in der Bevölkerung. Ein Blick in den Abstract-Band dieses Kongresses zeigt aber, dass Praxisrelevanz durchaus ein zentrales Anliegen ist. Gesundheitsförderung beruft sich auf das Salutogenese-Konzept des Medizinsoziologen Aaron Antonovski. Dieses geht von der Grundannahme aus, dass Gesundheit und Krankheit die Pole sind, zwischen denen ein Kontinuum der Befindlichkeiten besteht. Wir bewegen uns zeitlebens zwischen diesen Polen, wir sind jeweils mehr oder weniger gesund oder krank. Eines allein trifft wohl niemals zu, jedem Zustand des Gesundseins entspricht auch immer ein Kranksein. Der von dem Sozialmediziner F. Hartmann, Mitglied unserer Gesellschaft seit dem Gründungsjahr 1963 und damals Direktor der Medizinischen Poliklinik Marburg, geprägte Begriff der „bedingten Gesundheit”, den er auf unserer Jahrestagung 1992 in Lübeck nochmals eindrucksvoll erläutert hat, entspricht wohl der salutogenetischen Sichtweise, gleichsam als Blick vom Pol der Gesundheit aus. Der Blick vom Krankheitspol ließe sich entsprechend als „bedingtes Kranksein” beschreiben. Antonovskis Sicht von Gesundheit und Krankheit als gegensätzliche Pole eines einzigen Kontinuums stellt in der Tat einen Bruch mit der krankheitsorientierten Denkrichtung in der Medizin dar, „die auf Annahme einer fundamentalen Dichotomie zwischen gesunden und kranken Menschen begründet ist” (Antonovski). Die psychosomatische Medizin hatte mit der Einbeziehung des Leib-/Seele-Problems in die Therapie offensichtlich bereits vor dem Erscheinen des Salutogenese-Konzeptes den einseitig pathogenetisch orientierten Denkansatz in der Medizin überwunden.Wenn Gesundheit und Krankheit die Pole des Kontinuums sind, auf dem sich das Individuum - oder bei epidemiologischer Betrachtung eine Gruppe - befindet, dann entsprechen ihnen auf der Handlungsebene die Felder Gesundheitswissenschaften/Public Health und Medizin als Pole zwischen dem Kontinuum Gesundheitsbildung/Gesundheitsförderung, Prävention, Therapie und Rehabilitation. Sozialmedizin ist in dieser Betrachtung ein Brückenfach, welches im wissenschaftlichen Auftrag aus der Sicht der Medizin die genannten Felder vertritt und als Versorgungsauftrag sozialmedizinische Begutachtung und Beratung durchführt. Wegen ihrer präventiven und psychosozialen Orientierung und vor allem wegen ihres bevölkerungsbezogenen Ansatzes in der Versorgungsberatung reicht die Sozialmedizin näher an den Gesundheitspol bzw. an die Gesundheitswissenschaften/Public Health als andere Fächer der Medizin. In umgekehrter Richtung vertreten Sozialmediziner - und das trifft ebenso für Medizinsoziologen zu - die Vorstellungen von Public Health in ihrem Aufgabenbereich in der Medizin.

Bleibt als Fazit die Feststellung, dass das salutogenetische Konzept eine neue Sichtweise für Gesundheit und Krankheit und deren Bewältigung eröffnet, aber auf der Handlungsebene ist dieses Konzept ein Argument gegen eine Trennung von Gesundheitswissenschaften/Public Health und Medizin.

Die genannten drei Gründe sind für mich wichtige und hinreichende Argumente dafür, dass sich die DGSMP als Mitveranstalter am Internationalen Kongress Public Health beteiligt und ihre Jahrestagung einbringt. Der Deutschen Koordinierungsstelle für Gesundheitswissenschaften als Organisator des Kongresses, d. h. Herrn Prof. von Troschke und seinen Mitarbeitern, ist für die Ausrichtung der Tagung Dank zu sagen. Offensichtlich sind mit dieser Veranstaltung hohe Erwartungen an New Public Health geweckt worden. Mögen sich der Kongress und seine Ergebnisse als eine wissenschaftlich und gesundheitspolitisch effektive Plattform erweisen für das gemeinsame Ziel aller Beteiligten, die Gesundheit und Lebensqualität in der Bevölkerung zu fördern.

Prof. Dr. Gostomzyk Präsident der DGSMP