CC BY-NC-ND 4.0 · Klin Monbl Augenheilkd 2019; 236(07): 922-928
DOI: 10.1055/s-0043-123880
Offene Korrespondenz
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Erfahrungsmedizin“ zwischen Wissenschaft und Okkultismus – eine Kontroverse um die Irisdiagnostik 1925 – 1950

“Experience Medicine” Between Science and Occultism – a Controversy About Iridology 1925 – 1950
Jens Martin Rohrbach
1   Department für Augenheilkunde, Forschungsbereich Geschichte der Augenheilkunde/Ophthalmopathologisches Labor, Eberhard-Karls-Universität Tübingen
,
Christoph Kernstock
2   Universitäts-Augenklinik, Eberhard-Karls-Universität Tübingen
,
Conka Ilieva Tekeva-Rohrbach
3   Standort Hechingen, Augenzentrum Tuttlingen
,
Spyridon Dimopoulos
2   Universitäts-Augenklinik, Eberhard-Karls-Universität Tübingen
› Author Affiliations
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Publication History

eingereicht 26 September 2017

akzeptiert 06 October 2017

Publication Date:
22 January 2019 (online)

„Das sind die Weisen, die durch Irrtum zur Wahrheit reisen. Die bei dem Irrtum verharren, das sind die Narren.“

(Friedrich Rückert [1788 – 1866]. Das Zitat wurde von Gustav Schleich für seinen Artikel von 1925 „Nochmals die Augendiagnose“ verwendet [1].)

Die Irisdiagnostik („Augendiagnostik“, „Iridologie“) erfreut sich auch im 21. Jahrhundert noch lebhaftesten Zuspruchs. Die Zahl der Anwender – zumeist Heilpraktiker – dürfte in Deutschland in die Tausende gehen. Der Fachverband Deutscher Heilpraktiker e. V. schreibt auf seiner Homepage: „Die Augendiagnose gewährt einen tiefen Einblick in die normalerweise verborgenen Bereiche der individuellen Erbanlagen. Sie zeigt die anlagebedingten Schwächen eines Menschen, seine genetisch geprägten und familiären Krankheitsneigungen (Konstitution)“. Das „Felke-Institut“ bewertet die Iridologie als „konkurrenzlos effektive Analysemethode“. Die Paracelsus-Heilpraktikerschulen führen auf ihrem Internetauftritt aus: „Mit der Augen- und Irisdiagnose lässt sich aus Farbe, Dichtigkeit und mannigfaltigen Zeichen der Regenbogenhaut der körperliche und geistige Zustand eines Menschen feststellen. […] Oftmals kann der Praktiker durch eine gute Augendiagnose (dauert bis zu einer Stunde) auf Ursachen stoßen, die ursächlich für das allergo-pathologische Geschehen sind: vielleicht ist es eine Fokaltoxikose, eine Dysbiosis intestinalis, ein ‚Psycho-Syndrom‘, eine Phobie, eine ‚schlechte Entgiftung‘ über die physiologischen Bahnen und Wege des Körpers, ein Zusammenwirken von ‚schlechter Ernährung‘ und ‚schlechter Ausscheidung‘, eine Verschiebung des ‚Säure-Basen-Haushaltes‘, oder sogar ganz spezifisch: eine organische oder funktionelle Dysfunktion bestimmter Organe. […] Zum Schluss sei anzuführen, dass die Iridologie (Irisdiagnose, Augendiagnose) in Ländern wie z. B. Amerika, Australien, Deutschland und Russland, wo sie sogar von der klassischen Medizin zur Kenntnis genommen wird, gelehrt und weiter erforscht wird. Die ‚moderne‘ Schulmedizin wird nicht daran vorbeikommen, dieses Diagnoseverfahren anzuerkennen und anzunehmen“.

 
  • Literatur

  • 1 Schleich G. Nochmals „die Augendiagnose“. Medizinisches Korrespondenzblatt für Württemberg 1925; 95: 141-143
  • 2 Köbberling J. Der Wissenschaft verpflichtet. Med Klinik 1997; 92: 181-189
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  • 6 Simon A, Worthen DM, Mitas JA. An evaluation of iridology. JAMA 1979; 242: 1385-1389
  • 7 Ernst E. Iridology. Not useful and potentially harmful. Arch Ophthalmol 2000; 118: 120-121
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