Zeitschrift für Palliativmedizin 2017; 18(04): 165-166
DOI: 10.1055/s-0043-113470
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Beihilfe zum Suizid durch Verwaltungsakt?

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Publication Date:
04 July 2017 (online)

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Dr. Oliver Tolmein

Wie soll der Staat, wie soll die Gesellschaft damit umgehen, dass es Menschen gibt, die sich das Leben nehmen wollen? Gibt es gute Gründe dafür aus dem Leben scheiden zu wollen, die wir akzeptieren sollten? Und schlechte Gründe, angesichts derer wir verhindern müssen, dass ein Mensch sich tötet? Wer soll die guten Gründe von den anderen unterscheiden? Und wie stand es um Frau K., die infolge eines Unfalls vom Hals abwärts gelähmt war, künstlich beatmet werden musste, die auf ständige Pflege angewiesen war und unter starken Schmerzen litt? Frau K. ist bald nach ihrem Unfall Mitglied der Schweizer Sterbehilfe-Organisation Dignitas geworden und hat sich 2005 mit deren Hilfe das Leben genommen. Zuvor allerdings hatte sie noch auf Wunsch der Sterbehelfer einen Rechtstreit angestoßen, der dieses Jahr vor dem Bundesverwaltungsgericht zu Ende ging. Ludwig Minelli, Generalsekretär von „Dignitas“, hat das erläutert: „Sie stimmte sofort zu, als ihr der Vorschlag gemacht wurde, bei der Bundesopiumstelle das Begehren um Erlaubnis eines Zugangs zum Sterbemittel zu stellen, damit auf diese Weise ein Rechtsverfahren um diese Grundsatzfrage in Gang gesetzt werden konnte, obwohl dies ihre Leidenszeit um einige Monate verlängerte.“

Zwölf Jahre lang hat der Witwer von Frau K. den Prozess, den Dignitas initiiert hat, durch die Gerichtsinstanzen geführt – mit dem Ergebnis, dass das Bundesverwaltungsgericht vor wenigen Wochen abschließend zwar meinte eine Grundsatzentscheidung fällen zu können, aber nicht genügend Fakten für eine konkrete Entscheidung über den Sterbewunsch von Frau K. selbst zu haben.

Künftig sollen nach dem Willen des Bundesverwaltungsgerichts, Patienten, die sich wegen einer unheilbaren Erkrankung in einer extremen Notlage befinden und die frei entscheiden können, das Recht haben, Betäubungsmittel für ihre Selbsttötung zu erwerben. Eine solche extreme Notlage soll demnach gegeben sein, wenn die Krankheit der Suizidwilligen mit gravierenden körperlichen Leiden, insbesondere starken Schmerzen verbunden ist. Der so ausgelöste Leidensdruck soll „unerträglich“ sein, nicht ausreichend gelindert werden können – eine andere zumutbare Möglichkeit zur Verwirklichung des Sterbewunsches darf nicht zur Verfügung stehen. Zuständige Behörde für diese Entscheidungen über Leben und Tod soll die Bundesopiumstelle sein.

Da die im Verfahren reichlich eingebrachten medizinischen Unterlagen und Beschreibungen der Situation von Frau K. nach Auffassung der obersten Verwaltungsrichterinnen und -richter nicht ausreichten das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer „extremen Notlage“ festzustellen, fragt man sich, wie die Bundesopiumstelle künftig jedes Jahr möglicherweise ein paar hundert mal entscheiden können soll: Zugang zu Natriumpentobarbital oder nicht?

Die Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Ethikrates hat in einer überaus kritischen Stellungnahme das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das von Sterbehilfe-Organisationen hoffnungsfroh aufgenommen worden ist, scharf kritisiert: nicht nur stehe die Entscheidung in einem Spannungsverhältnis zur Forderung nach einer Stärkung suizidpräventiver Maßnahmen und Strukturen. Wichtiger noch erscheint der Einwand, dass nun eine staatliche Instanz dazu genötigt wird, die § 217 StGB und dem gesamten System des rechtlichen Lebensschutzes zugrunde liegende ethische Leitidee der staatlichen Neutralität gegenüber Lebenswertvorstellungen aufzugeben und anhand von Verwaltungsrichtlinien künftig Erwägungen über Kriterien wie „unerträglichen Leidensdruck“ anzustellen und darüber welche anderen Möglichkeiten – außer dem Suizid – in einer konkreten medizinischen Lage zumutbar sein könnten oder nicht.

Rätselhaft bleiben auch die wenigen Bezugnahmen auf Palliativmedizin, ihre Möglichkeiten und Grenzen in dem 25 Seiten umfassenden Urteil. Schon dass das Bundesverwaltungsgericht davon ausgeht, dass Palliativmedizin sich darauf beschränke einen „schon begonnenen Sterbeprozess zu begleiten“, zeigt keine vertiefte Befassung mit den Möglichkeiten und Grenzen starke Schmerzen im Vorfeld des Sterbeprozesses zu behandeln oder durch andere therapeutische, spirituelle, psychologische oder pflegerische Ansätze auf den Leidensdruck einzuwirken, um zu verhindern, dass er unerträglich wird. Auch wieso nach Auffassung der Bundesrichter im äußersten Fall nur „andere zumutbare Möglichkeiten zur Verwirklichung des Sterbewunsches“ berücksichtigt werden müssen, nicht aber beispielsweise Möglichkeiten der palliativen Sedierung, bleibt offen.

Stattdessen befindet das oberste deutsche Verwaltungsgericht, dass „in einer extremen Notlage die Anwendung eines Betäubungsmittels zur Selbsttötung ausnahmsweise als therapeutischen Zwecken dienend angesehen werden (kann); sie ist die einzige Möglichkeit, eine krankheitsbedingte, für den Betroffenen unerträgliche Leidenssituation zu beenden“. Für jedes tragische Schicksal, das ist die Botschaft dieser Entscheidung, hat die Justiz eine ausdrückliche rechtliche Lösung zu schaffen – und sei es, dass die (Selbst-)Tötung zur Therapie verklärt wird. Dass diese „Therapie“ im konkreten Fall nicht von einem Arzt, sondern selbst verordnet worden ist, reflektiert das Urteil nicht.

Es bleibt zu hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht, das derzeit über mehrere Verfassungsbeschwerden gegen § 217 StGB zu befinden hat, der die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe stellt, sich genauer und differenzierter mit der palliativmedizinischen Praxis befasst, in der extreme Notlagen und ein schwerer Leidensdruck durchaus an der Tagesordnung sind, die Fragen, die sich hier stellen, aber vielfältiger und die Antworten darauf widersprüchlicher ausfallen, als es in der Öffentlichkeit oftmals den Anschein hat. Zu recht hat deswegen die Mehrheit des Deutschen Ethikrates aktuell gefordert an dem durch § 217 StGB legislativ bekräftigten Grundgefüge festzuhalten und nicht der gebotenen Achtung individueller Entscheidungen über das eigene Lebensende eine staatliche Unterstützungsverpflichtung zur Seite zu stellen. Die Situation in den Benelux-Staaten zeigt nämlich auch, dass wenn der Staat anerkennt, dass der Lebensschutz für bestimmte Patientengruppen gelockert wird, dann der Entscheidung zur Lockerung der Anforderungen einerseits, der Ruf nach der Freigabe einer professionellen Tötung auf der anderen Seite immer weniger entgegengesetzt werden wird.

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Oliver Tolmein