Zeitschrift für Palliativmedizin 2017; 18(04): 180-185
DOI: 10.1055/s-0043-112489
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Doppelkopf: Dr. Ulrich Schuler und Beate Hornemann

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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
04. Juli 2017 (online)

Dr. Ulrich Schuler

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Zur Person

Dr. Ulrich Schuler

Jahrgang 1959, Studium in Tübingen und Aberdeen. Ausbildung zum Facharzt für Innere Medizin am Universitätsklinikum Tübingen. Seit 1994 am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden. Zuerst Schwerunkt Hämatologie und Onkologie, Zusatzweiterbildungen in Hämostaseologie und Palliativmedizin. Seit 2002 aktiv in der Lehre für Palliativ­medizin zunächst in Zusammenarbeit mit Dr. Barbara Schubert vom KH. St. Josephstift. Seit Ende 2007 mit vielen anderen helfenden Händen Aufbau der palliativen Strukturen am Universitätsklinikum (Palliativstation, SAPV-Team, Lehre QB13, Palliativdienst), derzeit Direktor des PalliativCentrums des Universitätsklinikums.

Wie kamen Sie in Ihr jetziges Tätigkeitsfeld?

Vieles war Zufall. Als Abiturient eher an Mathe und Informatik interessiert, hat mich der Zivildienst ins Pflegeheim verschlagen und Interesse an Medizinischem getriggert. Zu Studienbeginn war das Ziel dann Landarzt, bis dann die Famulatur in der Landarztpraxis diese Vorstellung ins Wanken brachte. Die Idiosynkrasien eines netten älteren Kollegen, der z. B. intramuskuläre Injektionen auch mal ohne Desinfektion durch Rock und Unterwäsche verabreichte, konnte ich mir nur durch jahrzehntelanges „Vor-sich-Hinwurschteln“ erklären. Seither ist mir das Korrektiv des kollegialen Austausches extrem wichtig. Die Promotion führte in die Hämatologie und sofort in ein Jobangebot. Nach dem Wechsel an die Uni in Dresden war Palliativmedizin ein Thema, aber 1994 ausdrücklich an der Uni als eigenständige Struktur nicht gewünscht. Aus der Inneren heraus wurde mir über die Jahre zunehmend klar, dass die psychosozialen Themenfelder unzureichend abgebildet sind, was zu den u. g. Entwicklungen führte.

Was wäre für Sie die berufliche Alternative?

Informatik schien mir eine Zeit lang interessant, ich habe zu Beginn des Studiums noch Lehrveranstaltungen besucht und mit Lochkarten FORTRAN programmiert. Als katholisch Jugendbewegter fehlte mir damals aber die politisch-soziale Dimension, das machte Medizin für mich doch interessanter. Im Laufe der Jahre sind die EDV-Kennnisse eher auf Durchschnitts-User-Niveau abgesunken, die Entwicklung ist einfach zu rasant.

Wie beginnen Sie Ihren Tag?

Unspektakulär. Radiowecker mit MDR-Klassik, Bad, Frühstück mit meiner Frau. Je nach Wetter und Tagesaufgaben Weg zur Arbeit mit Bus, Fahrrad, Auto.

Leben bedeutet für mich …

Neugier. Neugier auf Sinnliches, auf Zusammenhänge. Der biologische Lebensbegriff ist lediglich Grundlage aus der das, worauf es ankommt, emergent ist.

Sterben bedeutet für mich …

„Das“ Sterben gibt es so wenig wie „das“ Lieben und alle anderen Begrifflichkeiten die unterschiedlichsten Lebensaspekte in Schubladen verpacken. Die Konsens-Empfehlung der Palliativ-Leitlinie „Sterben und Tod als einen Teil des Lebens zu akzeptieren“, halte ich mit Verlaub für zu simplifizierend. Der Definition fehlen multiple notwendige Einschränkungen. Akzeptieren für die 25-jährige Mutter eines 2-jährigen Kindes, sozusagen stellvertretend für die Patientin (die ja nach aktuellem Verständnis der Kübler-Ross-Phasen nicht mehr „akzeptieren“ muss)? Vielleicht sogar Akzeptieren für die Verhungernden am Horn von Afrika, für die Ertrinkenden im Mittelmeer? Für die Opfer des Terrors, wenn er nur weit genug weg ist? Sterben und Tod diesseits von „Alt und Lebenssatt“ (1. Mose 25:8) nicht zu akzeptieren, war und ist die Triebkraft jeglichen sozialen, hygienischen und medizinischen Fortschritts. Davon möchte ich mich nicht im Nebensatz einer Grundsatzaussage verabschieden. Ist da Sterblichkeit und Sterben verwechselt worden?
Sterblichkeit als philosophisches Faktum zu akzeptieren, fällt mir nicht schwer. Davon zu trennen sind die Variabilitäten des Sterbens (Zeitpunkt; Umstände etc.) in ihrer konkreten Einzelaus­prägung. Mit kurzem Nachdenken fallen den meisten wohl Beispiele ein, die mit der Leitliniendefinition nicht kompatibel sind.

Welches Ziel möchten Sie unbedingt noch erreichen?

Da gibt es nichts Großes. Ein wenig zu Rationalität in Medizin und Gesellschaft beitragen. Ein paar Reiseziele.

Meine bisher wichtigste Lernerfahrung im Leben ist …

Das Lernen hört Gott sei Dank nicht auf. In jungen Jahren sieht man das anders, Lernen nervt und stresst. Mit die schönste Seite des Berufes ist, dass es nicht langweilig wird.

Was würden Sie gern noch lernen?

In der Musik: freier improvisieren. Sprachkenntnisse verbessern. Neue Sprachen auch nur ansatzweise lernen wird mit dem Alter schwieriger.

Woraus schöpfen Sie Kraft für Ihre Arbeit?

Rückhalt in der Familie ist wichtig. Musik als Ausgleich. Zuhören, immer mal wieder neue Werke, neue Künstler für mich entdecken. Aber auch immer wieder versuchen, mein eigenes dilettantisches Spiel zu verbessern. Leider zu selten: mit anderen musizieren. Gelegentlich Meditation mit Jon Kabat Zinn CD.

Mit wem aus der Welt- oder Medizingeschichte würden Sie gern einmal einen Abend verbringen?

Eine Frage, die mich seltsamerweise so ähnlich immer wieder beschäftigt, daher hier etwas mehr. Die Annäherung an bestimmte Problemfelder und Epochen geschieht bei mir auch über Biografien, deren Lektüre mich immer wieder fasziniert. Über interkulturelle Unterschiede denken wir immer wieder nach, dass auch einzelne Personen die Sicht auf die Welt in unterschiedlichster Weise verändert, im günstigsten Fall bereichert haben liegt auf der Hand.
Treffen würde ich gerne Shakespeare in seiner Zeit und seinem Umfeld, auch um vielleicht rauszufinden, ob es wirklich der Herr aus Stratford war, der all die faszinierenden Figuren erfunden hat (was ja manche bezweifeln). Aber steht inzwischen das Werk als Kanon nicht auch in gewisser Weise für eine Person, die den „Shakespeare“ mehr ausmacht als ein Gerippe oder ein paar alte Gemäuer in Stratford? Welcher Sinn liegt darin, eine historische Person dermaßen genau konturieren zu wollen?
Goethe und auch Carl Gustav Carus, nach dem unsere Medizinische Fakultät benannt ist, faszinieren mich als Universalgelehrte. Gelegentlich, wenn ich selbst vom schnellen Wandel überwältigt bin, stelle ich mir vor, sie wären in die Gegenwart „gebeamt“. Dann hole ich Goethe in Weimar mit dem ICE ab, wir fahren nach Frankfurt, seiner Heimatstadt im jetzt geeinten Deutschland und fliegen mit Lufthansa zur nächsten italienischen Reise. Was würde man ihm erklären können, was könnte er aufnehmen? Wäre das Rollenverhalten seiner Amts- und Schriftstellerwürde ihm ein Hindernis, wie ein Kind neu zu lernen? Würde der weitreichende Verlust der Orientierung im Sachwissen ihn auch an seiner Lebensweisheit zweifeln lassen? Man könnte über Denken, Lernen, Klugheit und Weisheit einiges erfahren. Wo ist meine Stellung, mein Erfahrungsschatz, mir ein Hindernis Neues aufzunehmen?
In jeder denkbaren Begegnung hätte ich andere Erwartungen, vielleicht Vorurteile. Würde man dem Phänomen Johann Sebastian Bach näherkommen, wenn man ihn in seiner Zeit besuchen könnte? Er erscheint mir eher hermetisch. Mozart würde sicher auch mit Begeisterung E-Gitarre spielen, wenn er uns besuchen könnte … Projektionen? Vorurteile? …

Wenn ich einen Tag unsichtbar wäre, würde ich …

mich bei der NSA einschleichen und deren Laden sowas von durcheinanderbringen (hoffentlich bin ich jetzt kein Terrorverdächtiger …)

Wie können Sie Frau Hornemann beschreiben?

Beate leitet den Bereich Psychoonkologie am Universitäts-Krebszentrum. In vielen Belangen ist sie das Herzstück des Betriebes, integrierende Kraft gegen divergierende Interessen, Sprachrohr der Patienten und Triebfeder in der Gestaltung von Weiterbildungen. Ihre „Truppe“ der Psychoonkologen denkt und arbeitet erfrischend fach- und prognoseübergreifend. Auch wenn sie die Palliativstation nicht mehr persönlich betreut, haben wir doch engen Kontakt, da uns die jüngsten Umzüge benachbarte Arbeitszimmer beschert haben. Über den Gang gibt immer mal wieder die Chance zu einem kurzen Plausch über Aktuelles, Kulturevents oder auch Verstehenshilfe für spezifisches Ost- und DDR-Empfinden, das mir als gelernter Wessi auch nach 20 Jahren Dresden manchmal abgeht. Persönlich schätze ich ihren Humor und die Möglichkeit eines kurzen, sagen wir mal Seelsorgegesprächs (sie wird das Wort hassen …), wenn mich akut eine Situation etwas aus dem Gleis bringt.

Wie beenden Sie Ihren Tag?

Da gibt es private Aspekte, die öffentlich nicht diskutiert werden. Aus dem Schlafzimmer ist der Fernseher raus, aber Radio (wenn es spät wird: MDR Kultur – Nachtmusik) oder eine häufig wechselnde Lieblings-CD (aktuell: Daniil Trifonov: „Liszt – Transcendental“) läuft meist noch ein Weilchen. Mehrere Bücher auf dem Nachttisch, die um die Aufmerksamkeit konkurrieren. Aktuell fesselt „The Noise of Time“, ein biografischer Shostakovich-Roman von Julian Barnes (genial für Palliativmediziner auch sein Buch über das Sterben “Nothing To Be Frightened Of”, schon der Titel ein Gedicht, aber ich schweife ab).

Gibt es etwas, das Sie gern gefragt worden wären, aber noch nie gefragt worden sind?

Im Privaten ja, im Öffentlichen eher nein.