Der Klinikarzt 2017; 46(01/02): 3-4
DOI: 10.1055/s-0043-103311
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Wandel zur gesundheitsbewussteren Gesellschaft?

Matthias Leschke
Esslingen
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Publication Date:
04 April 2017 (online)

Telemedizin? Die Fernübertragung medizinischer Daten? Die Idee ist alt. Ein gewisser Willem Einthoven erfand 1903 das EKG. Er übertrug die abgenommenen Herzströme über eine Telegrafenleitung anderthalb Kilometer weit in ein Krankenhaus. Das war nichts anderes als Telemedizin. Heute läuft das entspannter und perfekter. Wir haben schließlich das Internet.

Telemedizin sei gut, erleichtere den Arzt-Patientenkontakt im ländlichen Raum, spare Geld. Theoretisch sehen das die Player unseres Gesundheitswesens ein, Kliniken, Ärzte, Homecare Versorger, Apotheker. Eigentlich hält jeder Telemedizin und Telemonitoring für eine famose, zukunftsfähige Methode. Doch ernsthaft dranwagen will sich keiner wirklich. Datensicherheit steht für uns Deutsche im Vordergrund – kann der Fortschritt bleiben, wo er will. Im Grunde sind alle Gruppierungen dagegen, im Augenblick noch, ein langer Augenblick: Die Ärzteschaft, die Kliniken, die Apotheker, die Krankenkassen. Immerhin seit Anfang 2016 ist die telemedizinische Überwachung von Patienten mit Defis oder CRT-Systemen durch die Aufnahme in den EBM geadelt. Das ist toll. Der Ausschluss von Patienten mit Herzschrittmacher lief dazu parallel. Wer soll das verstehen? Die Kassen treten auf die Bremse. Dass es ja nicht zu viel kostet! Einige telemedizinische Projekte laufen immerhin derzeit in der Republik. Doch alle sind Pilotprojekte. Irgendwer müsste diese Leistung, wäre sie die Regel, bezahlen. Wie gesagt, die Kassen mauern.

Doch welcher Segen für Arzt und Patient könnte die digitale Patientenakte sein! Milliarden wurden in ihre Entwicklung versenkt. Und bis heute ist nichts daraus geworden. Ja, die Datensicherheit, das ist das Problem. Bedenken hier, Bedenken dort. Ein Trauerspiel. Doch glaubhaft ist es nicht, dass man sich nur um die Sicherheit der Daten sorgt. Die digitale Patientenakte würde Transparenz schaffen. Und das missfällt so vielen!

Wie sieht denn die Internetnutzung hierzulande aus? Sämtliche Straßen und Landschaften sind von Google Earth erfasst. Und wir alle nutzen dieses Angebot ganz selbstverständlich. Erst als Googles Kamerawagen durch die Straßen fuhren, ging ein Aufschrei durchs Land. Von wegen der Privatsphäre unserer Domizile! Google kümmerte das nicht und heute nutzen wir alle diesen Service. Amazon macht uns das Einkaufen am PC oder Smartphone zum spielerischen Nebenbei und wen stört es schon, dass der Versandgigant unsere Bestellungen analysiert und einem postwendend täglich Produkte anbietet, die unseren Wunschvorstellungen entsprechen. Den Social Networks geben wir unsere alltäglichen Geheimnisse und Banalitäten preis, inklusive intimster Fotos. Wir gieren geradezu danach, dass alle Welt an unseren Gedanken, Vorlieben, unseren Abneigungen, ja unserem Hass teilnimmt und unsere Opinion „liked“. Hören wir endlich auf mit diesem unehrlichen Gejammer um die Datensicherheit! Telemedizin ist vielen nicht geheuer, denn sie schafft Transparenz. Und das ist das Problem!

Auf der digitalen Patientenkarte kann alles stehen, was den Gesundheitsstatus eines Menschen betrifft. Vorerkrankungen, Impfstatus, Medikationspläne, Laborbefunde, Röntgen- und Ultraschallbilder, Allergiepässe, Arztbriefe. Die digitale Patientenkarte macht den Patienten gläsern, sie zeigt aber auch, wo Fehler begangen wurden, therapeutische Fehleinschätzungen, sich ausschließende Medikationen. Die digitale Patientenakte dokumentiert die gesamte Gesundheitskarriere eines Bürgers. Gerne wird darauf verwiesen, dass man solche intimen Daten schützen müsse. Sehr wohl. Angst macht den Ärzten die Transparenz: Wer haftet für die Beurteilung der eingegangenen Daten? Die mitwirkenden Ärzte stehen in der Verantwortung. Sie müssen sich die Daten genau anschauen, um nichts anbrennen zu lassen. Das würde sie schnell angreifbar machen.

Vitalparameter lassen sich per Internet an eine Praxis, ein MVZ oder ein Krankenhaus übermitteln, wo eine Software diese Daten analysiert und bei Abweichungen vom Normwert den Arzt aktiviert: Dieser ruft den Patienten zu Hause an, erteilt Ratschläge, verfügt eine Änderung der Medikation oder lässt den Patienten vom Notfallteam umgehend in die Klinik bringen. Das wären die Möglichkeiten des Telemonitorings.

Alle sind von der Telemedizin angetan. Allerdings vertrauen manche Ärzte immer noch eher ihren handschriftlichen Aufzeichnungen als der elektronischen Datenerfassung. Arztbriefe vom Krankenhaus kommen häufig noch per Post, Wochen nach der Entlassung des Patienten, oder per Fax (was jeder eigentlich mitlesen könnte). Die Verlinkung individueller Krankheitsdaten mit internationalen Datenbanken ist theoretisch möglich, wird aber nicht praktiziert. So manche Diagnose könnte so vor dem Hintergrund ähnlicher Fälle neue Hoffnung für einen Patienten bedeuten. Beispiel Schlafapnoe-Versorgung: Die DGSM kreuzt die Klinge mit Homecare Versorgern, die ihren Patienten ermöglichen, die Daten des Atemtherapie-Geräts via Netz abzugreifen und ihnen zur Verfügung zu stellen. Die DGSM will Telemonitoring nur erlauben, wenn eine ärztliche Verordnung vorliegt. Nun, immer mehr Patienten pfeifen auf die ärztliche Oberhoheit und fordern Einsicht in ihre Therapiedaten. In Deutschland ist es natürlich verboten, sich in einer Online-Praxis beraten und behandeln zu lassen. Die Online-Arztpraxis DrEd verkündete Ende Januar 2017 die millionste Fernberatung und -behandlung. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate in Europa seit Gründung von DrEd beträgt 200 %.

Und vergessen wir nicht die Begeisterung, mit der immer mehr Mitmenschen mit Apps und Sensoren ihren Gesundheitsstatus erheben und mit „Freunden“ im Netz teilen. Vergessen wir nicht, dass sich viele Zeitgenossen im Netz Aufklärung holen und bald mit Arzt und Apotheker per Skype kommunizieren werden. Und die modernen Patienten wissen, was sie wollen. Die Gesundheitsprofis täten gut daran, die digitale Vernetzung mit Schwung, Intelligenz und Mut voranzutreiben. Sonst könnte es sein, dass sie von ihren Patienten getrieben werden.