B&G Bewegungstherapie und Gesundheitssport 2017; 33(01): 1
DOI: 10.1055/s-0043-100095
Editorial
Haug Verlag in Georg Thieme Verlag KG Stuttgart

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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
20. Februar 2017 (online)

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Liebe Leserinnen und Leser,

die erste Ausgabe von „Bewegungstherapie & Gesundheitssport“ setzt sich mit der Kampfkunst (Budo als Oberbegriff für alle japanischen Kampfkünste wie Aikido, Judo Kendo u. a.) in Therapie, Rehabilitation und im Behindertensport auseinander. Kampfkunst, aber auch Kampfsportarten (wie z. B. das Boxen) haben in den letzten Jahren eine erstaunliche Verbreitung zumindest in städtischen Großräumen gefunden und sind institutionell in der Sportlandschaft fest verankert. Zudem gibt es eine rege Nachfrage nach Budo-Angeboten im (förder-)schulischen Kontext, im Erwachsenenbereich, im Managementbereich, selbst im Senioren- und im Behindertensport. Es stellt sich für mich die Frage, wieso gerade in heutiger Zeit die Kampfkunst oder auch Kampfsportarten wieder so nachgefragt sind? Beide Formen können ja auf eine lange Tradition und Geschichte verweisen. Liegt es daran, dass man die pädagogischen und therapeutischen Potenziale neu entdeckt und wieder wertzuschätzen weiß, z. B. durch die Erfahrungen im Umgang mit eigenen Grenzen und denen des Mitkämpfers, mit festgelegten Regeln und Ritualen, mit einer direkten nonverbalen kämpferischen Auseinandersetzung mit einem Gegenüber? Unbestreitbar verfügt die Kampfkunst zunächst einmal über eine Fülle von motorisch koordinativen und konditionellen Elementen, mit denen Kraft, Flexibilität, Schnelligkeit, Ausdauer oder auch Reaktionsfähigkeit, Gleichgewicht und Kombinationsfähigkeit beansprucht und trainiert werden. Untrennbar damit sind jedoch auch psychische Prozesse verbunden wie beispielsweise eine umfassende Wahrnehmungsschulung, Disziplin, Emotions- und Verhaltenskontrolle, der Erwerb von Selbstvertrauen, die Konzentration auf die gegenwärtige Situation oder auch die Entwicklung von Einsichtsfähigkeit, dass Respekt und Achtung vor dem Gegner notwendig sind zur persönlichen Weiterentwicklung und zu Persönlichkeitswachstum. Hier ist daran zu erinnern, dass im Budo auch die Idee der „Kampfvermeidungskunst“ verbunden ist. Mit entsprechenden Modifikationen in Bezug zu den jeweiligen funktionellen Bedingungen der Teilnehmer können diese genannten Prozesse und Werte auch hervorragend für Therapie und Rehabilitation genutzt werden.

In meiner subjektiven Wahrnehmung steht die zunehmende Inanspruchnahme von Kampfkunst jedoch auch in Zusammenhang mit den sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen, die sich mit solchen Schlagworten füllen lassen wie Zukunftsängste, Jobunsicherheit, Werteverlust, Respektlosigkeit, Rücksichtslosigkeit oder allgemein mit einem raueren Geschäfts- und Gesellschaftsklima. Insofern kann die Inanspruchnahme solcher Angebote dem Wunsch entspringen, nicht hilflos diesen gesellschaftlichen Veränderungen ausgesetzt zu sein und genügend gegenüber diesen Widrigkeiten gewappnet zu sein. Wenn über diesen Weg die in der Kampfkunst enthaltenen Werte neu erfahren und verinnerlicht werden, ist dies sehr zu begrüßen, stärkt es doch das Körpergefühl, das Selbstbewusstsein und die Einsicht, dass Auseinandersetzung oder Interessensvertretung zwar unvermeidbar sind, jedoch unter demokratischen Spielregeln ablaufen sollten.

Kampfkunst besitzt weitgehend einen sehr guten inklusiven Charakter, sodass sie ausgezeichnet in integrativen Gruppen eingesetzt werden kann, wenn die verschiedenen Techniken auf die Bewegungsfähigkeiten von behinderten Teilnehmern angepasst werden. Die in diesem Heft aufgeführten Beiträge verdeutlichen dies in ausdrucksvoller Weise. Ich wünsche mir, dass Kampfkunst in der Zukunft mehr in vielen gesundheitssportlichen und bewegungstherapeutischen Kontexten Beachtung finden könnte.

Ihr

Hubertus Deimel