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DOI: 10.1055/s-0042-122837
Buchbesprechung - Schmerzen und Schmerzmittelabhängigkeit im Alter
Publication History
Publication Date:
09 February 2017 (online)
Nach seinem Buch „Sucht im Alter – Altern und Sucht“, welches ebenfalls im Kohlhammer Verlag erschienen ist und sich zu einem Standardwerk für diejenigen entwickelt hat, die sich mit dem tabuisierten Thema der Abhängigkeitserkrankungen bei älteren und alten Menschen beschäftigen, lenkt der Gerontopsychiater Dirk K. Wolter in seinem neuesten Buch wiederholt den Blick auf den letzten Lebensabschnitt, wenn auch nicht ausschließlich. Tatsächlich erwartet den Leser ein umfassender Überblick über Schmerz aus unterschiedlichen Perspektiven und in weiten Teilen eben nicht nur auf den alten Menschen bezogen.
Auch wenn es nicht üblich ist, das Vorwort zu lesen, so kann es bei diesem Buch nur empfohlen werden. Werden doch hier die Fragen gestellt, die das Buch beantworten möchte, z.B. „Müssen unsere Patienten manchmal mehr Schmerzen erleiden als nötig wäre? Lösen Schmerzen manchmal psychische Symptome aus oder verstärken sie zumindest? Rufen wir vielleicht manchmal durch Schmerzmittel psychische Symptome oder andere Beschwerden hervor? Wer bestimmt, wann der Bedarfsfall eingetreten ist? Und wenn sie darum betteln, sind sie dann »süchtig«?
Das Buch gliedert sich in 12 Kapitel. In den ersten 4 Grundlagenkapiteln wird detailliert beschrieben, wie wir Schmerzen wahrnehmen, wie wir sie erleben und welche Klischees über Schmerzen im höheren Lebensalter zutreffen oder auch nicht. Im klinischen Teil des Buches wird die Kommunikation zwischen Schmerzpatient und Medizinbetrieb beleuchtet und auf die reziproke Beziehung von Geist, Seele und Schmerz eingegangen. Zwei Kapitel sind den Psychopharmaka allgemein und den Opioidanalgetika im Speziellen gewidmet und ein Kapitel dem Missbrauch oder der Abhängigkeit von Schmerzmitteln. Zwei weitere Kapitel befassen sich mit der nicht-medikamentösen Schmerzbehandlung aus gerontopsychiatrischer Sicht und bei Suchterkrankungen.
Die vertiefende Erläuterung der neurobiologischen Grundlagen des Schmerzes macht deutlich, auf welcher neuronalen Basis chronische Schmerzen entstehen, wie ähnlich sich psychogene und nozizeptiv verursachte Schmerzen in bildgebenden Verfahren sind und wie Schmerzgedächtnis und Placeboeffekte zu erklären sind.
Katastrophisieren, negative Emotionen und psychische Störungen triggern das Schmerzempfinden und Ängste wirken als Katalysator. Vor allem Psychiater und klinische Psychologen werden mit Spannung die Zusammenhänge zwischen chronischen Schmerzen und Suizidalität, Depressionen, bipolaren und schizophrenen Erkrankungen, Persönlichkeitsstörungen und Posttraumatischen Belastungsstörungen lesen. Sehr verständlich nachvollziehbar werden die Unterschiede zwischen Angst, Furcht und Ängstlichkeit bzw. „fear“, „anxiety“ und „worrying“ dargestellt.
Das persönliche Engagement des Autors wird besonders dort deutlich, wo es um Schmerz als Begleitsymtom der Altersmedizin geht. Differenziert werden pauschalisierte Einstellungen von Behandlern beleuchtet und gerade im Zusammenhang mit dementiellen Erkrankungen die Bedeutung der Kommunikation von Schmerzen erläutert. Daher fehlen auch nicht dezidierte Hinweise auf Materialien zur Schmerzerkennung bei Demenz. Eine Schmerztherapie ist immer eine komplexe, anspruchsvolle Behandlung, an deren Beginn es unerlässlich ist, die „subjektive Wahrheit“ des Patienten anzuerkennen. Neuropsychopharmaka bieten sich als eine Behandlungsmöglichkeit an, können aber auch Auslöser von Schmerzen sein. Opioidanalgetika werden mit Blick auf einen möglichen Missbrauch und die Entstehung einer Abhängigkeit beleuchtet und gleichzeitig sowohl die Behandlung einer iatrogenen Sucht als auch die Schmerzbehandlung bei vorbestehenden Suchterkrankungen thematisiert. Stringent mündet das Buch in die nicht- medikamentösen psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten von Schmerz, auch da die Wahrnehmung und das Erleben von Schmerzen keine passiven Vorgänge und somit therapeutisch veränderbar sind.
Dieses Buch richtet sich an in der Schmerzmedizin und –psychologie, der Psychosomatik, der Gerontopsychiatrie, der Geriatrie und Suchtmedizin Tätige. Der Autor trägt in beeindruckender Weise und vertiefend die wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammen, ohne die Wissenslücken und Widersprüche zu verschleiern. Die Abbildungen, Infoboxen, Beispiele und Exkurse veranschaulichen die nicht selten schwierigen Zusammenhänge. „Schmerz“ ist ein sehr vielschichtiges Thema und dies ist kein „leichtes“ Buch, auch wenn es sehr gut und klar geschrieben ist. Es macht deutlich, dass Schmerz subjektiv ist und durch Apparatemedizin und Pharmakotherapie weder sicher bestimmbar noch ausreichend behandelbar ist. Der Leser profitiert sowohl von einer exzellenten Kenntnis der aktuellen Literatur als auch von einer langen klinischen Erfahrung des Autors.
S. Kuhn, Hamburg