Fortschr Neurol Psychiatr 2016; 84(12): 721
DOI: 10.1055/s-0042-120855
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Multiple Sklerose – Mehr Patienten leben ohne Behinderungen

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Publikationsdatum:
12. Dezember 2016 (online)

Knapp 17 Jahre nach der Erstdiagnose sind fast 90 % der Patienten mit Multipler Sklerose (MS) noch ohne Hilfe gehfähig. Diese Zahlen einer aktuellen US-amerikanischen Studie beschreiben die Fortschritte beim Langzeitverlauf der MS. Ohne Therapie wären nach vergleichbaren epidemiologischen Studien in dieser Zeit nur etwa 50 % ohne Gehhilfe oder einen Rollstuhl ausgekommen. Die MS-Therapie hat sich rasant entwickelt, es fällt jedoch schwer, diesen Fortschritt zu beziffern. Die Studie bringt nun etwas mehr Licht ins Dunkel. „Die aktuellen Zahlen stammen zwar nur aus einem einzigen Zentrum, deshalb muss man sie mit Vorsicht interpretieren. Sie zeigen aber, dass wir bei der MS auf einem guten Weg sind und unseren Patienten heute eine Vielzahl Therapien anbieten können, die ihre Selbständigkeit und Lebensqualität lange erhalten“, sagt Prof. Heinz Wiendl von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN).

„Die Studie macht aber auch deutlich, dass die MS-Forschung noch lange nicht am Ziel ist“, ergänzt der Direktor der Klinik für Neurologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. „Wir können noch nicht allen Patienten schwere Einschränkungen ersparen und haben noch keine guten individuellen Vorhersagemöglichkeiten für den Verlauf und das Ansprechen auf die Therapie.“

Um besser zu verstehen, inwieweit heutige Standardmedikamente auf lange Sicht Behinderungen reduzieren, hat ein Forscherteam um Stephen L. Hauser von der University of California in San Francisco nun Daten von 517 Patienten ausgewertet, die über viele Jahre in diesem Zentrum in Behandlung und unter Beobachtung waren. Die Studienteilnehmer wurden bis zu 10 Jahre lang begleitet. Zudem erfassten die Forscher rückblickend die Entwicklung von Behinderungen seit der Diagnose. Dafür nutzten sie die Standardskala EDSS (Expanded Disability Status Scale). Es zeigte sich, dass der Wert bei 41 % der Studienteilnehmer unter einer Therapie mit Interferon beta und nötigenfalls hochpotenten Wirkstoffen wie Natalizumab und Rituximab stabil blieb oder sich sogar verbesserte. Einen EDSS-Wert von 6 oder größer – gleichbedeutend mit der Notwendigkeit von Krücken oder (ab EDSS 7) eines Rollstuhls – erreichten während der medianen Krankheitszeit von 16,8 Jahren hier lediglich 10,7 % der Patienten. Bleiben die Patienten unbehandelt, sind es etwa 50 %, die in diesem Zeitraum ähnlich schwere Behinderungen erleiden, wie frühere Studien gezeigt haben.

Der Großteil der Patienten hatte anfänglich eine „Plattformtherapie“ erhalten mit Interferon (IFN) beta-1b, IFN beta-1a oder Glatirameracetat. Diejenigen, bei denen eine deutliche Verschlechterung eingetreten war, hatte man auf eine „Hochpotenztherapie“ umgestellt mit meist neueren Substanzen wie Natalizumab, Rituximab oder auch Mitoxantron und Cyclophosphamid. Weitere Präparate wie Fingolimod, Dimethylfumarat und Teriflunomid wurden zwar ebenfalls verabreicht. Sie sind aber erst seit wenigen Jahren auf dem Markt, sodass sie bei der Analyse der ersten beiden Studienjahre nicht berücksichtigt wurden. „Obwohl es den Kollegen aus San Francisco gelungen ist, den Krankheitsverlauf abzumildern, erlitten über die Zeit 59 % der Studienteilnehmer eine klinisch signifikante Behinderung. Das illustriert den anhaltenden Bedarf an effektiveren krankheitsmodifizierenden Therapien für die schubförmige MS und generell für effektive Therapien gegen die progrediente MS“, betont Wiendl.

Dass eine Immuntherapie spätere Behinderungen reduzieren kann, belegte auch eine kürzlich veröffentlichte multizentrische retrospektive Beobachtung Hier konnte ebenfalls gezeigt werden, dass die Langzeitprognose unter Immuntherapie besser ist, als man es aus früheren natürlichen Verlaufsstudien oder im direkten Vergleich ohne Therapie erwarten würde. „Beide Untersuchungen leiden allerdings unter der methodischen Einschränkung, dass direkte Vergleichsgruppen aus gleichen Regionen mit gleicher Krankheitsaktivität, aber ohne entsprechende Therapie fehlen“, so Wiendl.

Nach einer Mitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie