Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement 2017; 22(S 01): S1-S2
DOI: 10.1055/s-0042-120493
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Selbstmedikation – Quo vadis?

Self-medication – Quo vadis?
Reinhard Rychlik
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
27. Februar 2017 (online)

Das deutsche Gesundheitswesen hat sich seit Jahren an die internationale Nomenklatur angepasst und Begriffe wie Wirksamkeit und Unbedenklichkeit überholt. Nutzen und Zusatznutzen stehen nicht nur von der Wortwahl an erster Stelle, häufig noch durch das Attribut „patientenorientiert“ ergänzt.

Dies geht mit einer gleichzeitigen Abkehr von ökonomischen Überlegungen einher, sodass schon gefragt werden muss, wer sich wie an Patienten orientiert und ob dies überhaupt ohne wirtschaftliche Überlegungen geschehen kann. Nahezu alle Schnittstellen der Sektoren werden hierbei nach wie vor vernachlässigt und zeitweilig gewinnt man den Eindruck, dass es überhaupt keinen patientenorientierten Nutzen gibt.

Vielfach reagiert der Patient auf eigene Weise: Er googelt und chattet und wird sein eigener Experte. Wobei die Wahl der Experten in Deutschland schon immer beim Patienten lag und die Expertise subjektiv bescheinigt wurde.

Die Zunahme der Patientensouveränität beeinflusst somit zwangsläufig das Therapiegeschehen. Da nützt es auf Dauer auch nicht, die Patientenakzeptanz methodisch hintanzustellen. Maximal lassen sich nur noch die Auswirkungen (Outcomes) kontrollieren.

Ein beträchtlicher Teil des deutschen Gesundheitswesens war und ist immer noch fest in der Hand des Patienten: die Selbstmedikation. Wer nutzt sie, wem nützt sie und wie gestaltet sie sich?

Dieses Übersichtsheft zeigt in vier prägnanten Beiträgen die Struktur und den Rahmen der Selbstmedikation sowie ihre Perspektiven und Chancen in Deutschland auf.

Allen voran der Deutsche Apothekerverband e. V. mit seinem Vorsitzenden Fritz Becker und der Referentin Nadine Noelte, die nicht nur auf die Zuordnung zum Arzt oder Apotheker, sondern auf die elementare Funktion der Apotheker hinweisen, die durch Expertise und Lotsenfunktion zur Adhärenz des Patienten beitragen. Eine Funktion, der sich das deutsche Parlament durchaus nicht immer bewusst ist. Es klafft in der Tat eine „Lücke zwischen Wunsch nach Selbstbestimmung und der Wirklichkeit in der Umsetzung“.

Fritz Becker und Nadine Noelte weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass seit 2012 im Rahmen des GKV-Versorgungsstrukturgesetzes Krankenkassen die Option haben, OTC-Arzneimittel als Satzungsleistung zu erstatten.

Mehr als 70 Kassen haben sich dieser Option angeschlossen.

Für die Weiterentwicklung der Selbstmedikation sind Switches, also Entlassungen von Arzneimitteln aus der Verschreibungspflicht in die Apothekenpflicht, bedeutsam.

Elmar Kroth, Geschäftsführer Wissenschaft des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller e. V., sieht Deutschland dabei an vorderster Stelle. Er zitiert die Datenbank des Europäischen Verbandes der Selbstmedikationsindustrie. Danach wird Deutschland noch von Neuseeland, Australien, den USA und Großbritannien übertroffen. Die Triagekriterien sind dabei überall ähnlich: sicherer und einfacher Gebrauch, Stärkung der Patientenverantwortung und verbesserte Lebensqualität. Elmar Kroth geht deshalb davon aus, dass in Deutschland weiterer Handlungsbedarf für die Freistellung weiterer Wirkstoffe besteht, und führt internationale Überlegungen an, sich stärker an geeigneten Indikationen zu orientieren.

Dabei spielen jedoch auch gesundheitsökonomische Überlegungen eine zunehmende Rolle. Die Österreicher Peter Schneider, Anna-Theresa Reimer, Julia Bobek, Sabine Vogler und Herwig Ostermann widmen ihren Beitrag der ökonomischen Betrachtung (Kosten-Nutzen-Analyse) des Minor Ailment Scheme (MAS), eines standardisierten Selbstmedikationskonzepts für bestimmte Indikationen, die früher dem Arzt vorbehalten waren, in UK. Dazu wählen sie die gesellschaftliche Perspektive – ein schwieriges Unterfangen, aber letztlich fair, weil alle Perspektiven darunter subsumiert werden können: Patient, Leistungserbringer und Leistungserstatter.

Sie vergleichen die arztgestützte mit der apothekengestützten Selbstmedikation und der Selbstmedikation ohne Arzneimittel.

Für das MAS – durchaus regional unterschiedlich – existiert eine Selbstmedikationsliste (formulary). Nach systematischer Literaturanalyse kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass mindestens ein Viertel aller Patienten von MAS Gebrauch machen müssten, damit es zu einem ökonomischen Benefit kommt. Aus der Sicht des Apothekers kann es sogar zu Kostensteigerungen durch Schulungen und Beratungszeit kommen. Danach proklamiert das Autorenteam die zukünftige Rolle des Apothekers: „… expanding from a ‚dispenser‘ to an integrated health care professional offering counseling, advices and new pharmacy services.“

In einer größer angelegten Untersuchung präsentieren Uwe May und Cosima Bauer gesundheitsökonomische Ergebnisse zur apothekengestützten Selbstbehandlung im Gesamtkontext des deutschen Gesundheitssystems. Uwe May und Cosima Bauer weisen zu Recht auf die überdimensionale Inanspruchnahme von Arztkontakten in Deutschland hin – mit dem Ergebnis des Zeitmangels und daraus resultierender Folgeerscheinungen wie z. B. AU-Bescheinigungen für Bagatellerkrankungen. Ein Mehr an Selbstbehandlung könnte deshalb eine Art Zusatznutzen darstellen, der sich dann auch monetär bewerten ließe.

Uwe May und Cosima Bauer kommen im Rahmen einer Kosten-Minimierungs-Analyse auf einen GKV-Entlastungseffekt von immerhin 21 Mrd. € pro Jahr, eine Größenordnung die man einfach nicht vernachlässigen kann. Durch vermiedene Arbeitsunfähigkeit werden weitere 6 Mrd. € eingespart. Weitere intangible Nutzen- bzw. Lebensqualitätseffekte lassen sich ableiten. Beide Autoren fordern als Quintessenz eine Kompetenzausweitung der Apotheker, ein Gatekeeping wäre denkbar, Switch-Impulse sollten gefördert werden.

Zusammenfassend entsprechen die Beiträge dem Zeitgeist und zeigen zugleich Perspektiven auf. Wir alle wollen mehr über unsere Gesundheit und Krankheiten wissen. Das neue Gesundheitsbewusstsein fördert den Austausch mit Experten und öffnet auch der Selbstbehandlung neuen Raum. Verantwortlichkeit und Selbstbewusstsein der Bürger sollten politisch gestärkt werden, erst recht in Zeiten abnehmender politischer Verpflichtungen.