Dtsch Med Wochenschr 2016; 141(17): 1216
DOI: 10.1055/s-0042-112253
Dossier
Herz, Hirn und Psyche
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Komorbiditäten werden unterschätzt

Georg Ertl
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Publication Date:
24 August 2016 (online)

Die seit Urzeiten bekannten Zusammenhänge zwischen seelischen Störungen, Angst, Depression und körperlichen Krankheiten haben in Zeiten der großen Erfolge der naturwissenschaftlichen Medizin zunächst an Bedeutung verloren. Die systematische, empirisch wissenschaftliche Beschäftigung mit psychosomatischen Krankheiten und Gründung eines neuen wissenschaftlichen Fachs Psychosomatik, das sich zunehmend moderner biometrisch-statistischer aber auch biologischer Methoden bedient, hat diese Defizite bis heute nicht behoben.

Herzkrankheiten gelten als wesentlich psychosomatisch mitbestimmt. Der Herzinfarkt gilt als stressbedingt, daher auch der Name „Managerkrankheit“. Neuerdings rücken biologische Zusammenhänge zwischen seelischen und kognitiven Störungen und Herzkrankheiten mehr und mehr ins Forschungsinteresse. Angst, Depression und Denkstörungen können als eigene Krankheitsentitäten oder Komorbiditäten auftreten. Sie belasten die Lebensqualität und gelten als wesentliche Risikofaktoren für ein frühes Versterben oder die Einweisung in ein Krankenhaus bei Patienten mit chronischen und fortschreitenden organischen Erkrankungen. Die Herzinsuffizienz ist ein gutes Beispiel: Mehr als ein Drittel der Patienten haben eine Depression, die das Risiko für Tod oder Re-Hospitalisierung um das Zwei- bis Dreifache steigert.

Bei Patienten mit schweren organischen Erkrankungen werden psychische Störungen häufig nicht diagnostiziert oder unkritisch medikamentös behandelt. Es hat sich in neueren Arbeiten jedoch gezeigt, dass die Behandlung psychischer Krankheiten nicht ohne weiteres auf psychische Störungen, die als Komorbiditäten von organischen Krankheiten auftreten, übertragen werden können. Psychopharmaka müssen beispielsweise bei Patienten mit Herzinsuffizienz kritisch gesehen werden.

Unbemerkte kognitive Störungen führen zur schlechteren Adhärenz bei der Medikamenteneinnahme und bei der wichtigen Selbstkontrolle von Krankheitsparametern. Diese sind häufige Ursachen von Dekompensationen der organischen Erkrankung. Insgesamt sind neue umfassende Versorgungs- und Betreuungsmodelle, die Herz, Hirn und Psyche berücksichtigen, gegebenenfalls auch palliative Konzepte einsetzen, von großer Bedeutung für Patienten mit chronischen Herzkrankheiten.

Das DMW-Dossier zum Thema „Herz, Hirn und Psyche“ umfasst drei Beiträge zu Angst, Depression und Kognitiven Dysfunktionen bei chronisch Kranken. Darin beleuchten die Autoren die wichtigen bidirektionalen Einflüsse und geben Praxistipps zur Kommunikation mit Patienten, geeigneten Diagnostik und aktuellen Therapieoptionen.