Tierarztl Prax Ausg G Grosstiere Nutztiere 2019; 47(04): 266
DOI: 10.1055/s-0039-1692753
Moderne Tierzucht im Spannungsfeld ökonomischer und gesellschaftlicher Ansprüche
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zucht auf Funktionalität und Gesundheit – von Datenflut und neuen Phänotypen

J Tetens
1   Abteilung für Nutztierwissenschaften und Zentrum für Integrierte Züchtungsforschung, Georg-August-Universität Göttingen
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Publication Date:
21 August 2019 (online)

 

Einleitung:

Die einseitige Zucht auf Leistung, wie sie in der Vergangenheit vornehmlich betrieben wurde, hat teils erhebliche Verschlechterungen im Bereich der Tiergesundheit und Funktionalität nach sich gezogen. Beispiele dafür sind ausgeprägte negative Energiebilanzen in der Frühlaktation bei Milchkühen bedingt durch steigende Milchleistung oder Probleme mit der Knochenstabilität bei hochleistenden Legehennen. Daher sind in den letzten Jahren immer stärker sog. funktionale Merkmale als wichtige Bestandteile des Zuchtziels in den Vordergrund gerückt. Als funktionale Merkmale werden solche Merkmale bezeichnet, die vorliegen müssen, damit ein Tier die eigentliche Leistung erbringen kann. Typische Beispiele finden sich in den Merkmalskomplexen Gesundheit, Fruchtbarkeit, Verhalten oder Ressourceneffizienz. Funktionale Merkmale sind in der Regel komplexer Natur, d.h. sie sind das Resultat eines Zusammenspiels verschiedenster Faktoren aus Genetik, Umwelt und Management, was eine effektive züchterische Bearbeitung häufig erschwert. Vor allem weisen sie in der Regel niedrigere Erblichkeiten auf als klassische Leistungsmerkmale und ihre phänotypische Ausprägung ist schwerer zu erfassen als bei jenen. Allerdings haben funktionale Merkmale eine hohe Relevanz in Bezug auf Tierwohl, Wirtschaftlichkeit und gesellschaftliche Akzeptanz der Nutztierproduktion.

Der richtige Phänotyp

Selektion basiert auf Zuchtwerten, die anhand individueller Merkmalsausprägungen (Phänotypen) und der Verwandtschaft zwischen Tieren (Pedigree) geschätzt werden. Klassische Leistungsmerkmale sind in der Regel gut messbar und entsprechende Strukturen zur Leistungsprüfung wurden erfolgreich implementiert. Gerade bei den funktionalen Merkmalen aber hat man es mit neuen und/oder nur schwer routinemäßig erfassbaren Merkmalen zu tun, wie die Beispiele weiter unten zeigen. Seit der Einführung der genomischen Selektion besteht die Möglichkeit, Zuchtwerte anhand genomweiter Markerdaten für Tiere ohne Leistungsinformation mit ausreichender Sicherheit zu schätzen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich der Aufwand für die Leistungsprüfung erübrigt, denn die genomische Selektion erfordert umfangreiche Lernstichproben, für die sowohl Genotyp- als auch Phänotypdaten vorliegen müssen. Gleichwohl bietet sich die Möglichkeit, bestimmte in der breiten Praxis kaum erfassbare Merkmale nur an repräsentativen Tiergruppen, beispielsweise in Testherden, zu erheben und so geeignete Lernstichproben zu generieren.

Neben funktionalen Merkmalen der Tiergesundheit und des Tierwohls steht mittlerweile der Merkmalskomplex Effizienz, insbesondere im Kontext einer nachhaltigen Ressourcennutzung und des Klimawandels, im Fokus züchterischen Interesses. Und auch Merkmale, die aus einer veränderten Erwartungshaltung des Verbrauchers resultieren oder in indirektem oder direktem Zusammenhang mit Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit stehen, gewinnen zunehmend an Bedeutung. Bei all diesen Merkmalskomplexen ist zudem die Identifizierung einfach erfassbarer Hilfsmerkmale von Bedeutung, da erst sie in vielen Fällen eine effektive züchterische Bearbeitung erlauben. Durch moderne Verfahren der Transkriptom- und Metabolomanalyse (sog. Omics-Technologien) stehen uns heute effektive Werkzeuge zur Verfügung, um sog. Endophänotypen auszumachen, die als Hilfsmerkmale bzw. Biomarker Eingang in die Zucht finden können. Vornehmlich aus wissenschaftlichen Untersuchungen stehen bereits heute viele hochdimensionale Datensätze zur Verfügung, die hierfür genutzt werden können. Gleichzeitig liefern im Zuge der Entwicklungen auf dem Gebiet des Precison Livestock Farmings verschiedenste Sensoren, am Tier und im Stall, sowie Aktuatoren immer größer werdende Datenmengen – längst ist das Schlagwort Big Data in aller Munde. Diese Daten enthalten, in der Regel in unstrukturierter Form, vielfältige Informationen über Zuchtzielmerkmale, insbesondere auch über die funktionalen und „neuen“ Merkmale, für die eine Leistungsprüfung nicht existiert. Eine der zentralen Herausforderungen der Tierzucht ist es daher, diesen Datenmengen aus Labor und Stall Herr zu werden und sie effizient im Sinne einer nachhaltigen Züchtung landwirtschaftlicher Nutztiere einzusetzen.