Tierarztl Prax Ausg G Grosstiere Nutztiere 2019; 47(04): 263
DOI: 10.1055/s-0039-1692749
Moderne klassische Tierzucht und Instrumente der molekularen Tierzucht
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Instrumente der modernen quantitativ-genetischen Tierzucht

S König
1   Institut für Tierzucht und Haustiergenetik, Justus-Liebig-Universität Gießen
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Publication Date:
21 August 2019 (online)

 

Für die meisten in der Milchrinderzucht relevanten Merkmale gilt das infinitesimale Vererbungsmodell. Das heißt, dass vermutlich tausende von Genen mit kleinen Effekten zur Merkmalsausprägung beitragen. Daher braucht z.B. die Milchrinderzucht ein Zuchtwertschätzverfahren, das sämtliche kleine Geneffekte angemessen berücksichtigt. Weitere Aufgabe der Zuchtwertschätzung ist, die genetischen von den umweltbedingten Einflüssen zu trennen. Das Instrumentarium der Zuchtwertschätzung dafür sind somit komplexe genetisch-statische Modellierungen, die kontinuierlich weiterentwickelt wurden bis hin zu sog. Random-Regression-Modellen für longitudinale Datenstrukturen oder rekursive Modelle, um Wechselwirkungen zwischen Merkmalen geeignet zu berücksichtigen. Auch bei der genomischen Zuchtwertschätzung handelt es sich um rechenintensive Mischmodellgleichungen, welche die Verwandtschaftsmatrix über genetische Marker (und nicht wie bisher auf der Basis von Abstammungsdaten) aufbauen. Der vorliegende Beitrag gibt eine Übersicht, wie diese komplexen Modelle zum Zuchtfortschritt in Milchrindpopulationen, auch für niedrig erbliche Merkmale, beigetragen haben. Weitere züchterische Erfolge mit diesen Modellen sind möglich, wenn a) eine bessere Merkmalserfassung und genauere Merkmalsdefinition erfolgt, b) das Instrumentarium der genomischen Selektion über große Kuhlernstichproben effizient umgesetzt wird und c) konkrete Anpaarungen zur Vermeidung von Erbfehlern und zur Ausnutzung von Dominanzeffekten auf der Basis von Herdengenotypisierungen erfolgen.

Phänotypisierungsstrategien

Bezüglich der besseren Merkmalserfassung (= Phänotypisierungsstrategien) für Gesundheits- oder Fruchtbarkeitsmerkmale gilt es, in Kooperation zwischen Tierzüchtern und Veterinärmedizinern neue Merkmale zu identifizieren, die objektiv erfasst (gemessen) werden können und deutlich die physiologische Ursache eines eher „schwammigen“ Phänotyps widerspiegeln. Als Beispiel seien hier im Labor messbare Progesteronprofile genannt, die deutlich genauer sind verglichen mit dem klassischen Zuchtwertschätzmerkmal Non-Return-Rate. Die Nutzung von Milchprogesteronwerten erlaubt die Generierung von longitudinalen Datenstrukturen (wiederholte Messungen innerhalb Kuh), gemessen an einer Vielzahl an Testtagen. Verschiedene Autoren konnten bereits zeigen, dass Milchprogesteronprofile eine deutlich höhere Erblichkeit als klassische Fruchtbarkeitsmerkmale oder binäre Gesundheitsdaten haben. Weitere Studien knüpfen daran an, um mittels endokriner Messergebnisse züchterische Impulse zur Verbesserung der Fruchtbarkeit setzen zu können.

Genomische Selektion auf Basis von Kuhlernstichproben

Für neue innovative Merkmale wie Progesteronverläufe gibt es allerdings keine sicher geschätzten Bullenzuchtwerte auf Basis einer Bullenlernstichprobe. Daher werden in der Lernstichprobe Merkmale von genotypisierten Kühen (daher der Begriff „Kuhlernstichprobe“) zu deren SNP-Markereffekten in Beziehung gesetzt. Während in einer Bullenlernstichprobe ca. 5000 genotypisierte Bullen mit sicher geschätzten konventionellen Zuchtwerten notwendig sind, um SNP-Effekte genau zu schätzen, ist die erforderliche Anzahl an Kühen in Kuhlernstichproben deutlich höher. Je niedriger die Erblichkeit des Merkmals, umso größer die erforderliche Anzahl an genotypisierten Kühen. In Deutschland war das Projekt „Kuh-L: Kuhlernstichproben“ mit den wissenschaftlichen Projektpartnern Uni Gießen, Uni Halle und vit Verden darauf ausgelegt, basierend auf ca. 20000 genotypisierten Kühen mit Phänotypen für eine breite funktionale Merkmalspalette erstmalig genomische Zuchtwerte für Fruchtbarkeits- und Gesundheitsmerkmale zu schätzen. Weiterführend konnten auf der Basis von genomweiten Assoziationsstudien potenzielle Kandidatengene identifiziert werden.

Weitere züchterische Möglichkeiten basierend auf Genotypdaten

Engmaschige Genotypdaten bieten die Möglichkeit, Chromosomensegmente zu identifizieren, die nie oder selten in reinerbiger Form vorkommen. Die Hypothese dahinter ist, dass für diese Chromosomensegmente reinerbige Individuen nicht lebensfähig sind und schon im Embryonalstadium abgestoßen werden. Dies äußert sich in schlechteren Besamungserfolgen. Somit gilt es, systematisch das Genom nach nicht reinerbig vorkommenden Segmenten „abzusuchen“. In der Praxis können Computeranpaarungsprogramme zum Einsatz kommen, die Anpaarungen unterbinden, damit reinerbige Schadhaplotypen erst gar nicht entstehen. Weiterhin wäre denkbar, für einzelne Genorte Dominanzeffekte zu schätzen. Insbesondere für niedrig erbliche Merkmale werden höhere Dominanzanteile an der phänotypischen Varianz vermutet. Auf dieser Basis (additiv-genetisch plus Dominanz) können genomische Produktionswerte konstruiert werden, um schon frühzeitig beim Kalb den späteren Kuhphänotyp vorherzusagen.