Nervenheilkunde 2015; 34(05): 355-359
DOI: 10.1055/s-0038-1627601
Deutsche Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde
Schattauer GmbH

Psychiatrie im Nationalsozialismus

Psychiatry during national socialism
K. HaackE
1   Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsmedizin Rostock
,
E. Kumbier
1   Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsmedizin Rostock
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eingegangen am: 03 February 2015

angenommen am: 16 February 2015

Publication Date:
22 January 2018 (online)

Zusammenfassung

Eine Geschichte der Psychiatrie im Nationalsozialismus (NS) umfasst ein breites Spektrum an Themen. Sie schließt die Verbrechen an psychisch Kranken und Behinderten ebenso ein wie die Ausgrenzung und Verfolgung jüdischer oder politisch unliebsamer Kollegen. Und zugleich wirft sie die Frage nach Tätern und Motiven auf und wie es zu diesen massiven Grenzüberschreitungen kommen konnte. Der Schwerpunkt der folgenden Überlegungen soll auf den Krankenund Behindertenmorden liegen. Vor dem Hintergrund einer eugenisch motivierten und auf Kosten-Nutzen-Abwägung und somit Ausgrenzung ausgerichteten Gesundheitsund Gesellschaftspolitik wurden zwischen 1934 und 1945 mehrere hunderttausend chronisch Kranke und Behinderte Opfer von Zwangssterilisationen, medizinischen Versuchen sowie der systematischen Tötung im Rahmen des “Euthanasie”-Komplexes. Neben der Darlegung von Struktur und Genese dieser Maßnahmen soll im Ansatz der Frage nachgegangen werden, warum so viele Ärzte ihre Aufgaben ganz bewusst in den Dienst der NSGesundheitspolitik stellten.

Summary

A history of psychiatry during National Socialism encompasses a broad spectrum of issues. It includes the crimes against mentally ill and handicapped persons as much as the exclusion and persecution of Jewish and other politically unwelcome colleagues. At the same time it poses the question with respect to perpetrators and motives and how it could come to such massive transgressions. The text set out below will focus mainly on the forced sterilisation and so-called euthanasia. Within the context of a eugenically motivated health and social policy, and one based on a cost-benefit analysis and thus essentially oriented towards exclusion, several hundred-thousand chronically ill and handicapped persons became victims of forced sterilisation, medical experiments as well as systematic killing within the framework of the “euthanasia” complex between 1934 and 1945. The structure and genesis of these measures will be presented. Furthermore, the question why so many physicians deliberately placed their services at the disposal of the Nazi health care policy will be examined rudimentary.

 
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