Gesundheitswesen 2016; 78 - A194
DOI: 10.1055/s-0036-1586703

Die Verwechslung von Zielen und Mitteln: Kein Assessment misst das Erreichen des gesetzlichen Rehazieles, oder?

J Behrens 1, 2, M Schmidt-Ohlemann 1, N Martin 3, K Grune 3, H Janßen 4, L Köhler 1, R Siegert 5, M Warnach 6, JW Kraft 1, F Naumann 3, M Pflug 7, S Thiel 3, M Wolf 2
  • 1Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Medizinische Fakultät, Halle/Saale
  • 2Institut für Supervision, Institutionsanalyse und Sozialforschung, Frankfurt am Main
  • 3Evangelisches Krankenhaus Woltersdorf, Woltersdorf
  • 4Hochschule Bremen -Institut für Gesundheits- und Pflegeökonomie (IGP), Bremen
  • 5Klinikum Bremen Ost, Bremen
  • 6Evangelisches Johannisstift, Berlin
  • 7Klinikum Coburg GmbH, Coburg

Hintergrund und Fragestellung: Das gesetzliche Ziel der Rehabilitation ist – nicht nur in Deutschland – selbstbestimmte Teilhabe (siehe für Deutschland §1 SGB IX: „Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“). Dieses Doppel-Ziel erfüllt nicht jede beliebige Teilhabe, sondern nur die Telhabe, die die individuelle Selbstbestimmung der Rehabilitanden fördert. Erfassen gängige Assessment-Instrumente das Erreichen des gesetzlichen Ziels der Rehabilitation?

Methodisches Vorgehen: Gängige Assessment-Instrumente des Reha-Erfolgs – Barthel, FIM und andere – werden daraufhin verglichen, ob sie das gesetzliche Ziel der Reha erfassen können. Aus einem laufenden, vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten, multizentrischem Projekt zur mobilen Rehabilitation in stationären Pflegeeinnrichtungen aus fünf Bundesländern werden zusätzlich verbreitete Ziele selbstbestimmter Teilhabe, wie sie verbal eingeschränkte Pflegebedürftige äußern, vergleichend herangezogen.

Ergebnisse: Die diskutierten Assessment-Instrumente erfassen eher die abgestufte selbständige Verrichtung ausgewählter Tätigkeiten als die selbstbestimmte Teilhabe. Selbstbestimmung (Autonomie) ist aber auch dann noch möglich, wenn Selbständigkeit (Autarkie) nicht – mehr – zu erreichen ist. Selbständigkeit bei ausgewählten Verrichtungen ist lediglich eines von mehreren Mitteln, die Selbstbestimmung erleichtern können. Dieses Mittel steht (nicht nur) bei steigendem Alter immer weniger zur Verfügung. Erreichte Selbständgkeit als Ziel der Rehabilitation zu messen bedeutet, Mittel und Ziel zu verwechseln und den vielen Menschen, die Selbständigkeit nicht mehr erlangen können, faktisch das Recht auf selbstbestimmte Teilhabe abzusprechen. Mit gutem Grund hat der Gesetzgeber nicht Selbständigkeit, sondern Selbstbestimmung als Ziel der Rehabilitation gesetzt.

Wie das laufende Projekt zur mobilen geriatrischen Rehabilitation pflegebedürftiger Bewohnerinnen und Bewohner stationärer Pflegeeinrichtungen zeigte, können selbst solche Bewohnerinnen und Bewohner, die sich verbal nicht oder kaum mehr verständlich machen können, ihre individuellen Ziele selbstbestimmter Teilhabe recht offensichtlich zum Ausdruck bringen. Nur diese individuellen Ziele mobilisieren auch ihre Kräfte, die Mühen und Zumutungen einer Rehabilitation auf sich nehmen zu können.

Diskussion: Warum sollte man also nicht diese individuellen Ziele selbstbestimmter Teilhabe am Anfang einer Rehabilitation als Rehaziele definieren, an denen am Ende der Rehabilitation das Erreichen des gesetzlichen Rehazieles gemessen wird? Ein Gegenargument ist, die therapeutischen, ärztlichen und pflegerischen Protokollanten könnten das individuelle Ziel selbstbestimmter Teilhabe so anspruchslos protokollieren, dass es immer sicher erreicht wird. Das verhütet das Professionsethos, auf welches wir uns fast bei jeder Indikationsstellung verlassen können müssen. Referenzen beim Verfasser.