Gesundheitswesen 2016; 78 - A97
DOI: 10.1055/s-0036-1586607

Soziokulturelles Empowerment im ländlichen Raum

JA Forkel 1, T Elkeles 1, M Grimm 1
  • 1Hochschule Neubrandenburg, Neubrandenburg

Das Alternserleben ist wie jede gesellschaftliche Teilhabe an institutionelle und soziale Faktoren gebunden, deren Habituation individuelle Ausprägungen in Bezug auf die soziokulturelle Erwartbarkeit ermöglichen. Wie in diesem Prozess Grenzen wirken, ist seit langer Zeit Gegenstand gerontologischer und politischer Zugänge, die zwischen Regulation (wohlfahrtsstaatliche Versorgung) und Individualismus (Alter und Altern) changieren. In diesem Aushandlungsprozess, der nicht utilitaristisch geführt werden kann, stehen daher immer wieder soziale Ungleichheiten im Mittelpunkt. Auch wenn diese Effekte statistisch sehr gut nachweisbar sind, wird in einem weiter gefassten interregionalen Vergleich eine weitere Ungleichverteilung mit zum Teil erheblichen Effekten für Einwohner von marginalisierten Regionen deutlich: territoriale Ungleichheit (Barlösius 2008). Schließungen betreffen hier im ganz wörtlichen Sinne gesellschaftliche Wirklichkeiten, die nicht nur institutionell im Bereich der daseinsvorsorgenen Strukturen zu beobachten sind (Fachinger/Künemund 2015), sondern auch individuell habituiert werden.

Daher wollen wir in unserem Beitrag – ausgehend von epidemiologischen Erkenntnissen gesundheitlicher Ungleichheit im nationalen Vergleich – auf Alternsstrategien der Lebensführung in ländlich-peripheren Regionen eingehen und einen Modellentwurf zu soziokulturellen Dimensionen des (Gesundheits-)Handelns entwickeln. Dabei wird deutlich werden, dass trotz der signifikanten Unterversorgung in den Strukturen der Daseinsvorsorge, vglw. geringerer Lebenserwartung und höherer Krankheitsbelastung, kohärente Gemeindestrukturen einen Modus der Altersgrenze definieren, der sich am Ethos einer protestantischen Arbeitsethik orientiert und vom Begriff der Erwerbsarbeit abgekoppelt ist. Die hohe soziale Kontrolle in kleineren Gemeinden definiert dieses Miteinander weitestgehend über die Verdienste und das Mitmachen im Gemeindeleben. Diese Prozesse evozieren ein Geschichtsbewusstsein, das im sozialen Feld der dörflichen Gemeinschaft, als eine bislang wenig systematisierte Ressource angesehen werden kann und im Alternserleben Strukturen für eine innovative Verhältnisprävention bereitstellen kann.

Die Ausführungen basieren auf Untersuchungen, die im Rahmen des Forschungsprojektes Lebensqualität und Erinnerung in ländlichen Gemeinschaften (LETHE) 2013 bis 2016 durchgeführt wurden. Hierzu wurden nach dem Verfahren der Mikrospatialen Typisierung (vgl. Forkel/Fischer 2014) 9 von 72 Gemeinden < 500 Einwohner im Landkreis Mecklenburgische Seenlandschaft nach den Typen arrivierte, kompensierende und deprivierte Gemeinden ausgewählt und biographische Interviews mit 50 Einwohnern älter als 60 Jahre geführt. Eine soziokulturelle Gemeindeaktivierung wurde in Geschichtswerkstätten für eine gemeinsame museale Darstellung (Gut und Boden. Erinnerung und Vergessen in dörflichen Gemeinschaften. Regionalmuseum Neubrandenburg, 2015) durchgeführt und analysiert. Referenzen beim Verfasser.