Gesundheitswesen 2016; 78 - A82
DOI: 10.1055/s-0036-1586592

Multimedikation im Alter: Versorgungsrealität und Leitlinienempfehlungen

V Lappe 1, P Ihle 1, I Schubert 1
  • 1Universität zu Köln, PMV Forschungsgruppe, Köln

Hintergrund: Mit zunehmendem Alter steigt die Häufigkeit von Multimorbidität, die in der Regel auch Multimedikation nach sich zieht. Die Hausärztliche Leitlinie Multimedikation1 zeigt die mit der Einnahme zahlreicher Medikamente – insbesondere bei alten Menschen – verbundenen Probleme auf und gibt Empfehlungen zur Reduzierung von Multimedikation. Routinedaten der gesetzlichen Krankenversicherung sind eine Informationsquelle, um Umfang und Art der Multimedikation bei älteren Patienten zu analysieren und Handlungsempfehlungen für die Gesundheitsversorgung daraus abzuleiten.

Methoden: Die Studie untersuchte Multimedikation (≥5 verordnete Wirkstoffe innerhalb von 91 Tagen) bei in Nordrhein-Westfalen lebenden Versicherten ab 65 Jahre der AOK Nordwest und Rheinland/Hamburg. Versicherte mit Pflegeleistung an einem Zufallsstichtag in 2012 wurden mit einer viermal so großen Kontrollgruppe ohne Pflegeleistung geschichtet nach 5-Jahres-Altersgruppen und Geschlecht verglichen.

Ergebnisse: Multimedikation war bei den älteren Versicherten ab 65 Jahre sehr häufig: 45% bei Patienten ohne, 72% bei Patienten mit Pflegeleistung. Potentiell problematische Wirkstoffe waren bei Patienten mit Multimedikation (MM) und insbesondere bei Patienten mit Pflege (mP) überproportional häufig verordnet: Antipsychotika ATC-Code N05A: 4,2% ohne Pflege (oP), 22,7% mP. Wirkstoffe der PRISCUS-Liste2: 6,0% (oP/ohne MM), 21,4% (oP/mit MM), 25,3% (mP/mit MM). Wirkstoffe mit Monitoringbedarf (Herzglykoside, Phenprocoumon, Diuretika, Metoclopramid, Wirkstoffe mit Risiko einer QT-Verlängerung): 17,3% (oP/ohne MM), 61,6% (oP/mit MM), 80,9% (mP/mit MM). Wirkstoffe mit Interaktionsrisiko, z.B. ACE-Hemmer und Allopurinol: 4,8% (oP), 5,8% (mP).

Diskussion: Multimedikation ist bei älteren Patienten schon aufgrund der ärztlich verordneten Medikamente sehr häufig und potentiell problematische Wirkstoffe spielen dabei eine relevante Rolle. Wegen des damit verbundenen hohen Risikos für unerwünschte Arzneimittelwirkungen durch Interaktionen, Anwendungsfehler und Complianceprobleme sind Maßnahmen zur Erhöhung der Arzneimitteltherapiesicherheit, z.B. ein Medikationsplan, unerlässlich. Dieser könnte unerwünschte Multimedikation transparent machen und die verordnenden Ärzte/innen dabei unterstützen, entsprechend den Leitlinienempfehlungen Multimedikation zu reduzieren und problematische Wirkstoffe zu vermeiden. In der Beratung zur Selbstmedikation haben Apotheker/innen die wichtige Funktion, die Kompatibilität mit den verordneten Medikamenten zu berücksichtigen und aufzuklären, ob neu aufgetretene Beschwerden unerwünschte Arzneimittelwirkungen einer bestehenden Medikation sein könnten. Die Optimierung der Arzneimitteltherapie von Patienten mit Multimedikation, also einem wesentlichen Teil älterer Patienten, insbesondere älterer Patienten mit Pflege, bedarf also des Zusammenwirkens aller Beteiligten in der Gesundheitsversorgung sowie der Mitwirkung des Patienten selbst. Referenzen beim Verfasser.