Gesundheitswesen 2016; 78 - A5
DOI: 10.1055/s-0036-1586515

Evidenzbasierung in der sozialmedizinischen Begutachtung bei Erwerbsminderungsrenten und Reha-Zugang – eine systematische Literaturrecherche

A Strahl 1, 2, A Rose 3, S Brüggemann 3, H Vogel 1
  • 1Universität Würzburg, Würzburg
  • 2Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Klinik und Poliklinik für Orthopädie, Hamburg
  • 3Deutsche Rentenversicherung Bund, Berlin

Hintergrund: Bislang existiert keine systematische Literaturübersicht zur sozialmedizinischen Begutachtung bei Anträgen auf Rehabilitationsleistungen bzw. Erwerbsminderungsrenten. Für die wissenschaftliche Fundierung und Weiterentwicklung der Sozialmedizin ist es jedoch erforderlich auf entsprechende Informationen zurückgreifen zu können. Mit dem Ziel einer verbesserten Evidenzbasierung sollen in einer systematischen Literaturrecherche relevante Publikationen identifiziert und in Anlehnung an das Schema von Shekelle et al. (1999) hinsichtlich ihrer Evidenz beurteilt werden.

Methodik: Die internationale Literaturrecherche umfasst Veröffentlichungen in deutscher und englischer Sprache aus den Datenbanken PUBMED/MEDLINE, EMBASE, PsycINFO, Psyndex, CENTRAL und CDSR für die Jahre 1993 bis 2015. Eingeschlossen wurden Artikel, in denen begutachtungsrelevante Aspekte mit Bezug auf die Beurteilung der Leistungsfähigkeit, den Zugang zur Rehabilitation oder zur Erwerbsminderungsrente untersucht werden.

Ergebnisse: Insgesamt wurden 2.956 Dokumente identifiziert. Nach Entfernung von Duplikaten und Eignungsprüfung anhand der Titel und Abstracts verblieben 105 Dokumente, deren Volltext überprüft wurde. Nach begründeten Ausschluss von 53 weiteren Dokumenten wurden abschließend 52 Artikel eingeschlossen. Die Datenextraktion zeigt, dass die Publikationen in die Kategorien (A) Assessmentinstrumente zur Feststellung der Funktionsfähigkeit sowie des Reha- und Rentenbedarfs, (B) allgemeine Vorgehensweisen der Begutachtungspraxis sowie (C) publizierte Leitlinien eingeteilt werden können. Hinsichtlich des Evidenzgrades fanden sich drei Studien mit einen Evidenzlevel Ib. Der überwiegende Teil der Publikationen wurde mit einem Evidenzgrad von III (21 Artikel) oder IV (23 Artikel) bewertet. Artikel zur Begutachtungspraxis sind vorrangig narrative Reviews, bei denen eine Selektion der dargestellten Informationen nicht auszuschließen ist.

Diskussion: Die Recherche konnte zeigen, dass die Evidenzbasis in der sozialmedizinischen Begutachtungsliteratur aktuell limitiert ist. Qualitativ hochwerte RCTs sind nur schwerlich umzusetzen und deshalb kaum anzutreffen. Demzufolge ist die hohe Anzahl an narrativen Reviewartikeln zu erklären. Die Komplexität des sozialmedizinischen Begutachtungsgeschehens, das sich an der ICF und dem biopsychosozialen Modell orientiert, führt zu sehr heterogenen Gegenständen und Konzepten der vorliegenden Studien. Diese Komplexität beruht nicht zuletzt auf der Perspektivenvielfalt auf die medizinischen Gegebenheiten aufgrund der biopsychosozialen Verankerung der Sozialmedizin.

Schlussfolgerungen: Angesichts der individuellen und gesellschaftlichen Bedeutung der Qualität sozialmedizinischer Begutachtungen scheinen eine Verbesserung der empirischen Basis für sozialmedizinische Begutachtungen und dementsprechende Forschungsanstrengungen dringlich. Die Komplexität des sozialmedizinische Begutachtungs- und Interaktionsgeschehens stellt besondere Anforderungen an die empirische Forschung, die aber durchaus lösbar erscheinen. Referenzen beim Verfasser.