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DOI: 10.1055/s-0035-1567116
40. Fortbildungstagung der Vereinigung der Bobath-Therapeuten in Berlin
Publication History
Publication Date:
09 September 2016 (online)
Thema der Tagung: Alles tut weh – Vom Umgang mit Schmerz in der Bobath-Therapie
Am 20./21.Mai 2016 trafen sich 140 Physio- und Ergotherapeuten, Logopäden, Orthopädietechniker, Ärzte, Wissenschaftler und Pflegekräfte in den Räumen der Stadtmission. Die alljährlich stattfindende Fortbildungstagung der Vereinigung der Bobath-Therapeuten dient dem Informationsaustausch auf hohem fachlichen Niveau und der wissenschaftlichen Absicherung des sich wandelnden Therapiekonzepts in Entwicklungsneurologie und Neurorehabilitation. Neben den Vorträgen und Seminaren zum Thema Schmerz nahmen auch in diesem Jahr die Überlegungen zu wissenschaftlicher Annäherung an das Bobath-Konzept einen großen Raum ein.
Dr. Charlie Fairhurst, leitender Neurowissenschaftler des Evelina Children’s Hospital in London erwähnte in seinem Eingangsvortrag die große Häufigkeit des Vorkommens von Schmerzproblemen bei Kindern mit Zerebralparese. Das Thema Schmerz im Zusammenhang mit Zerebralparese wurde erst in den letzten Jahren von der Forschung beachtet. Die Betroffenen leiden häufig an chronischen Schmerzen, hervorgerufen durch Bewegungsarmut und den damit verbundenen Folgeerkrankungen. Chronischer Schmerz reduziert Beweglichkeit und führt darüber hinaus zu zusätzlichen Kontrakturen und Muskelabbau. Ständige Hintergrundschmerzen und Allodynie schränken Wohlbefinden und Lebensqualität und die Möglichkeit zur Teilhabe deutlich ein. So muss es ein individuelles Schmerzmanagement für Patienten mit Zerebralparese geben.
In seiner engagierten Beschreibung stellte Dr. Fairhurst dar, dass Spastizität der Muskulatur in zentralen Strukturen ein Schmerzgefühl aktivieren kann. In Basalganglien und im Thalamus kommt es zur Verschaltung von motorischer Empfindung, Schmerz und Emotion. Auch neurophysiologische Therapie geht von der Grundannahme der Plastizität neuronaler Strukturen aus. Ebenso wie für die Übermittlung von Bewegungssignalen sind biochemische Substanzen für die Schmerzverarbeitung zuständig. Ein aktueller Reiz (z. B. ein Gewebeschaden durch eine Verletzung) wird im ZNS als akuter Schmerz wahrgenommen. Das Schmerzempfinden kann sich vom akuten Geschehen abkoppeln und zu einem chronischen Eindruck werden, wenn es mit Emotionen verknüpft ist, wie z. B. dem Wunsch nach Aufmerksamkeit. Das als chronischer Schmerz empfundene Gefühl hat somit eine zentrale Ursache, auch wenn der Reiz in der Peripherie nicht mehr vorhanden ist.
Dr. Carola Hasan aus dem Kinderschmerzzentrum der Vestischen Kinder- und Jugendklinik in Datteln sprach über die Patienten, die nicht von einer neurologischen Grunderkrankung betroffen sind. Auch bei diesen Kindern kann es durch eine zurückliegende akute Gewebeschädigung zu einem Teufelskreis aus verselbstständigter Sensibilisierung und einem vom ursprünglichen Reiz abgekoppelten massiven Schmerzerleben kommen. Die eigenständige Erkrankung mit biopsychosozialer Ursache bestimmt den Alltag der sehr beeinträchtigten Kinder und ihrer Familien. Die Patienten fühlen sich ängstlich, hilflos und ziehen sich aus Schule und Peergroup immer mehr zurück. Das stationäre multimodale Behandlungskonzept sieht Edukation und Training in Schmerzbewältigungsstrategien vor. Das Kind soll lernen, dass sein Schmerz nicht durch Ärzte oder Therapeuten, sondern durch eigenverantwortlich herbei geführte Ablenkung, Entspannung und Zuversicht reduziert werden kann.
Praktisches therapeutisches Lernen und interdisziplinärer Erfahrungsaustausch war in den Seminaren während der Fachtagung möglich. Es gab unter anderem Workshops zu Kopf- und Rückenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen, zum Einsatz von Medikamenten und zu Physio- und Ergotherapie bei spezifischem chronischem Schmerzzustand. Schon im allgemeinen Sprachgebrauch gibt es viele Worte für die sehr unterschiedlich empfundenen Eigenschaften des Schmerzes. Ein Kind, das sich nicht wie ein Erwachsener verständlich machen kann, braucht multidisziplinäre Bewertung seiner Schmerzäußerung, damit ihm wirkungsvoll geholfen werden kann. Ausgegangen wird von dem Grundsatz, dass nur der Betroffene über das Ausmaß des eigenen Schmerzes Auskunft geben kann. Schmerz ist für Außenstehende nicht messbar.
Interdisziplinarität ist Teil des Bobath-Konzepts. Das Zusammenspiel der Berufe Physio- und Ergotherapeut, Logopäde, Arzt und Wissenschaftler einer der Bezugswissenschaften wird in der Bobath-Ausbildung und auf jeder Fachtagung der Vereinigung eingeübt. In diesem Jahr brachte die Abstimmung über eine Satzungsänderung auf der Mitgliederversammlung der Vereinigung ein lang gehegtes und oftmals diskutiertes Vorhaben zu einem erfolgreichen Ende. Es dürfen nun auch Pflegekräfte, die einen Kurs in „Bobath in Kranken- und Altenpflege (BIKA)“ absolviert haben, Mitglied der Vereinigung der Bobath-Therapeuten werden.
So mag es vielleicht kein Zufall gewesen sein, dass der Pflegewissenschaftler Prof. Dr. Matthias Zündel den aufrüttelnden Vortrag „Bobath vom Spielfeldrand betrachtet“ hielt. Sein Referat stimmte die Bobath-Community recht nachdenklich. Es gäbe zu wenig Forschung zum Thema klinische Praxis, behauptete er. Bobath-Therapeuten müssten der Frage nachgehen: „Was unterscheidet unser Spiel von anderen?“ und damit die Themen bestimmen. Wissenschaftler, die sich dem Bobath-Konzept von außen näherten, hätten Schwierigkeiten, die Spezifik zu erfassen. Zündstoff lieferte Zündels Gedanke: „Ist Bobath vielleicht nur eine Philosophie?“ Die besondere Expertise von Bobath-Therapeuten, der Einsatz des Arbeitens an der Leistungsgrenze, die Adaptation von sensorischer Information im therapeutischen Handeln müssten beschrieben werden. So käme man in gemeinsamer Arbeit von Bobath-Therapeuten und Wissenschaftlern zu Erkenntnissen über die theoretische Fundierung des Konzeptes.
Die Vorsitzende des Bundesverbands selbstständiger Physiotherapeuten IfK, Ute Repschläger, berichtete aus dem Dschungel von berufspolitischer Gesetzgebung und Verhandlung mit den Kostenträgern. Auch sie betonte, dass es die Aufgabe eines Fachverbandes sei, gezielt Forschung zur Überprüfung bewährter Therapieformen anzuschieben. In der Konkurrenz um ökonomische Ressourcen in der Gesundheitsversorgung gäbe es die Notwendigkeit, den besonderen Nutzen der personal- und zeitaufwendigen Bobath-Therapie für den Patienten nachzuweisen. Frau Repschläger wies darauf hin, dass der Beruf des Physiotherapeuten (nach Fachpflegekraft und Sprachtherapeut) auf Platz 3 der Engpassberufe steht.
Das Seminar „Wissenschaftliches Arbeiten zur Bobath-Therapie“ leiteten Karoline Munsch und Susanne Max von der Fachhochschule Hildesheim und Hille Viebrock, Koordinatorin des Wissenschaftsbeirates der Bobath-Vereinigung. Neuere Therapiemethoden haben häufig einen stärkeren Forschungshintergrund als die zur „Good Practice“ entwickelte Bobath-Therapie. Die Heterogenität der Klientel und die Komplexität der Bobath-Therapie sei Realität, die man für relevante Studienfragen in den Griff bekommen müsse, meinte Susanne Max. Nachdenklich stimmte die Überlegung von Prof. Dr. Bernhard Borgetto, dass die unterschiedlichen Therapierichtungen zunehmend konvergieren. Ist damit die Suche nach Alleinstellungsmerkmalen der Bobath-Therapie überholt? Alle Seminarteilnehmer sprachen sich dafür aus, bei der nächsten Fachtagung im kommenden Jahr in Hamburg das Brainstorming und die Suche nach Forschungsthemen im Rahmen eines Kolloquiums fortzusetzen.
Die Bobath-Vereinigung meint es ernst und spendet alle 2 Jahre einen Wissenschaftspreis. Zum 2. Mal vergeben, ging er in diesem Jahr an die Physiotherapeutin Katharina Roggemann für ihre Master-Arbeit an der HAWK in Hildesheim mit dem Titel „Die Bedeutung der Gehfunktion für Kinder mit CP“. Dotiert ist der Preis mit 1000,- Euro, und es sollen damit wissenschaftliche Arbeiten gewürdigt werden, die sich mit dem Wesen und der Wirkung von komplexen therapeutischen Interventionen in Entwicklungsneurologie und Neurorehabilitation befassen.
Deutlich wurde bei der Tagung in Berlin, dass die Aufgaben des Fachverbands immens sind. Ein großer Teil der Mitglieder, die praktisch mit dem Bobath-Konzept arbeiten, fühlen sich durch die Anforderung des wissenschaftlichen Nachweises der Wirksamkeit verunsichert. Sie fürchten, dass die Bobath-Therapie, die sich über viele Jahrzehnte zum Wohle des Patienten bewährt und weiterentwickelt hat, zugunsten von weniger komplexen, dafür aber leichter zu beforschenden therapeutischen Interventionen in den Hintergrund gerät. Der Fachverband spielt hier die Rolle des Vermittlers zwischen Good Practice und Wissenschaft. Daher waren alle über den Zuwachs an tatkräftigen motivierten Mitstreiterinnen erleichtert, als sich die Physiotherapeutinnen Claudia Abel und Justine Eck sowie die Ergotherapeutin Sarah Novak in das Vorstandsteam der Vereinigung der Bobath-Therapeuten wählen ließen.
Die arbeitsreiche Tagung unter dem Motto „Schmerz“ fand so ein heiteres und hoffnungsvolles Ende.