physiopraxis 2015; 13(07/08): 18-22
DOI: 10.1055/s-0035-1562858
physiowissenschaft
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Internationale Studienergebnisse


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Publication Date:
24 July 2015 (online)

Koxarthrose – Sporttherapie ist einer reinen Placebo-Intervention überlegen

„Physiotherapie hat gleichen Effekt wie Placebobehandlung“ schockte vor einiger Zeit eine Studie der australischen Physiotherapeutin Prof. Kim Benell (physiopraxis 1/15, S. 20). Sie behandelte Patienten mit Koxarthrose mit passiven Maßnahmen wie Weichteiltechniken, Dehnungen und manuellen Techniken und aktiven Maßnahmen wie Kräftigung, Gleichgewichts- und Gangübungen. Die Studie erweckt den Anschein, als hätten alle diese Interventionen dieselbe Wirkung wie ein Placebo. Andere Studien, etwa ein 12-wöchiges hüftspezifisches Training nach dem Tübinger Hüftkonzept, konnten jedoch zeigen, dass eine sporttherapeutische Intervention zu einer Schmerzreduktion und Funktionsverbesserung führt.

Wir verglichen eine Gruppe, die nach dem Tübinger Hüftkonzept trainierte (71 Probanden), mit einer Placebogruppe (70 Probanden) und einer Kontrollgruppe (68 Probanden). Die Patienten der Trainingsgruppe besuchten einmal pro Woche eine Gruppentherapie, in der sie Kräftigungs-, Mobilisations- und Gleichgewichtsübungen machten. Diese Übungen führten sie zusätzlich zweimal pro Woche zu Hause durch. Die Placebogruppe erhielt einmal pro Woche eine Scheinultraschallbehandlung an der Hüfte, die Kontrollgruppe bekam keine Therapie. Direkt vor und nach der Intervention befragten wir alle Studienteilnehmer mithilfe des WOMAC-Indexes zu Schmerzen, körperlicher Funktionsfähigkeit und Gelenksteifheit, mit dem SF36-Fragebogen zu ihrer gesundheitsbezogenen Lebensqualität.

Nach zwölf Wochen gaben die Patienten der Trainingsgruppe bezüglich ihrer Schmerzen und der körperlichen Funktionsfähigkeit signifikant bessere Werte an als die Kontroll- und Placebogruppe. Steifheit und gesundheitsbezogene Lebensqualität – ausgenommen die Schmerz-Komponente – blieben in allen Gruppen unbeeinflusst. Somit können Patienten mit Koxarthrose von einem aktiven Trainingsprogramm, zum Beispiel nach dem Tübinger Hüftkonzept, im Sinne einer Schmerzreduktion und Verbesserung der körperlichen Funktionsfähigkeit profitieren.

PD Dr. Inga Krauß

Dtsch Arztebl Int 2014; 111: 592–599

KOMMENTAR

Hinreichend dosiert?


Studienergebnisse, die sich auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen, machen es Klinikern oft schwer, zu entscheiden, wie sie in der Praxis darauf reagieren sollen.


Auch die Studie von Kim Bennell und die aus unserem Haus sind so ein Fall. Schaut man sich die Interventionen jedoch im Detail an, lassen sich die unterschiedlichen Ergebnisse durchaus nachvollziehen: Die beiden Untersuchungen überschneiden sich in Bezug auf kräftigende, mobilisierende und balanceorientierte Elemente. Unsere Interventionen waren jedoch wesentlich höher dosiert. Die Probanden trainierten über 12 Wochen zweimal pro Woche zwischen 30 und 60 Minuten – davon die ersten drei Wochen im Sinne einer Wahrnehmungsschulung, fünf Wochen im Sinne eines Kraftausdauertrainings und vier Wochen mit einem Maximalkrafttraining. Bei Benell erhielten die Patienten über 12 Wochen zehn Behandlungen und ein Heimtrainingsprogramm.


Vergleicht man die Ergebnisse der beiden Studien, so fällt auf, dass das Tübinger Konzept nicht nur zu einer Schmerzlinderung und Funktionsverbesserung führte, sondern auch zu einer Steigerung der Kraftfähigkeit der hüftumgebenden Muskulatur um 11–16 Prozent [1]. In der Studie von Bennell konnte hingegen keine Verbesserung der Muskelkraft nachgewiesen werden [2].


Fazit: Patienten mit Koxarthrose scheinen von Trainingstherapie zu profitieren – die Evidenzlage dazu ist sehr gut [3, 4]. Allerdings muss sie offenbar – entsprechend dem Vergleich zwischen unserer Intervention und der von Benell – trainingswirksam dosiert sein, damit sich der Zustand der Patienten über einen reinen Placeboeffekt hinaus verbessert. Fraglich ist dagegen, ob Manualtherapie bei diesen Patienten einen zusätzlichen Nutzen hat. In einer aktuellen Übersichtsarbeit, in der manuelle Techniken mit aktiven Übungen und einem Placebo verglichen wurden, wird dies in Frage gestellt [5].


PD Dr. Inga Krauß

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PD Dr. rer. soc. Inga Krauß ist Physiotherapeutin und Sportwissenschaftlerin. Sie leitet den Forschungsbereich Biomechanik/Trainingswissenschaft der Abteilung Sportmedizin an der Universitätsklinik Tübingen. Mit Kollegen entwickelte sie die seit 1995 bestehenden Hüftsportgruppen weiter und evaluierte das Tübinger Hüftkonzept – ein Sporttherapieprogramm, das auch Physiotherapeuten anbieten können.