Suchttherapie 2015; 16 - P_01
DOI: 10.1055/s-0035-1557695

Bedeutungswandel von Suchtmitteln und Komorbiditäten in der stationären Suchtrehabilitation: Daten über 2 Jahrzehnte

D Hinze-Selch 1, P Weitzmann 1, S Zentner 1, W Voigt 1, I Englert 1, R Nebe 1
  • 1Fachkliniken St. Marien-St. Vitus GmbH, Deutschland

Einleitung: „Klassische“ Suchtrehabilitation und Suchtselbsthilfe verlieren an Boden (nls, 2012). Die heutigen Patienten passen nicht mehr in alte Konzepte. In der vorgelegten Studie werden die Hypothesen untersucht, dass sich über die letzten 2 Jahrzehnte Suchtgewohnheiten und vor allem psychische Komorbiditätsbedingungen verändert haben bei Verkürzung der Behandlungszeiten in stationären Settings. Wir hypostasieren, dass die psychische Komorbidität zugenommen hat. Dies könnte bedeutsam sein für die Schwierigkeiten im traditionellen Suchthilfesystem.

Methoden: In zwei Suchtfachkliniken (200 Behandlungsplätze, gendersensible Behandlung, legale Substanzen, Glücksspiel) wurden die Gesamtjahresbehandlungsdaten bzgl. Lebensalter, somatischer/psychischer Komorbiditätsdiagnosen und Behandlungsdauern ausgewertet für die Behandlungszeiträume 1993 – 1995, 2003 – 2005 und 2011 – 2013. Die Ergebnisse werden über den Zeitverlauf sowie für beide Einrichtungen und Geschlechter dargestellt.

Ergebnisse: Bei mäßigem Anstieg des Durchschnittsalters (m: 43,2 vs. 44,6, w: 39,9 vs. 42,2 Jahre) nimmt der Anteil der bis 25-jährigen Männer deutlich zu (0,9 vs. 6,4%) unter Abnahme der „klassischen“ Rehaaltersgruppen 26 – 50 Jahre (m: 75 vs. 61%, w: 40 vs. 28%) und Zunahme der über 50-Jährigen (m: 24 vs. 32%, w: 59 vs. 72%). Die Behandlungsfälle pro Jahr steigen um rund 50% bei entsprechend abnehmenden durchschnittlichen Behandlungsdauern (m: 105 vs. 77, w: 99 vs. 85 Tage). Die Diagnosenlast (Anzahl Diagnosenennung/Anzahl der Behandlungsfälle im Zeitraum) steigt für die ICD-10-F1-Suchtdiagnosen (m: 1,15 vs. 1,93, w: 0,57 vs. 1,91) mit Pathologischem Glücksspiel m: 2,14, w: 1,92). Die Diagnosenlast durch psychische Komorbidität steigt (m: 0,03 vs. 0,72, w: 0,35 vs. 1,77), insbesondere durch Depressionsdiagnosen (m: 0,03 vs. 0,28, w: 0,04 vs. 0,52), Angst-/Belastungsreaktionsdiagnosen F4 (m: 0,01 vs. 0,22, w: 0,06 vs. 0,74) sowie Persönlichkeitsstörungsdiagnosen (m: 0,03 vs. 0,21, w: 0,14 vs. 0,24). Somatische Komorbiditätsdiagnosen nehmen ab bei Männern (1,89 vs. 1,25), aber zu bei Frauen (0,45 vs. 0,65).

Diskussion: In unseren beiden gendersensiblen Suchtfachkliniken hat über die letzten 20 Jahre der Anteil der „klassischen“ SuchtrehapatientInnen (40 Jahre, gut im Leben stehend) abgenommen bei gleichzeitiger Zunahme der Suchtbelastung durch Substanzen und Verhaltenssüchte. Die psychische Komorbiditätslast hat ebenfalls erheblich zugenommen, sodass unsere Daten bei verkürzten Behandlungszeiten und unverändert bestehenden Barrieren zwischen den Hilfs-/Behandlungssystemen die Hypothese unterstützen, dass diese Faktoren bedeutsame Veränderungen darstellen, denen das klassische Suchthilfesystem nicht ohne Weiteres gewachsen ist. Selbst wenn diese Diagnosen nicht tatsächlich so stark zugenommen haben, haben sie unzweifelhaft zugenommen in der Wahrnehmung durch die Behandler in einem zeitgemäßen bio-psycho-sozialen Konzept von Suchtstörungen. Behandlungsmodalitäten müssen patientenzentriert, Hilfesystembarrieren überschreitend langfristige Begleitungen und professionelle Hilfen ermöglichen für diese komplex chronisch erkrankten Patienten.