intensiv 2015; 23(03): 118-119
DOI: 10.1055/s-0035-1550605
Kolumne
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ein erfolgreiches kleines Familienunternehmen
oder

Heidi Günther
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Publication Date:
06 May 2015 (online)

Jeder möchte lange leben, aber keiner will alt werden.

(Jonathan Swift, 1667–1745, irischer Satiriker)

In der Werbung, in vielen Büchern und Filmen sieht das Leben im Alter oft sehr romantisch, komisch, leicht und unbeschwert aus. Da sitzt die alte Dame mit verklärtem Blick und dem Wäschekorb auf dem Schoß auf dem Treppenlift und kann die Welt nicht mehr verstehen, dass irgendjemand annehmen könnte, dass sie aus ihrer Wohnung ausziehen soll, nur weil die alten Beine es nicht mehr tun. Zur Not könnte sie sich ja noch Kytta-Salbe auf die von Arthrose geplagten Gelenke schmieren, eine Handvoll sogenannte Nahrungsergänzungsmittel von A wie Artischocke bis Z wie Zink einwerfen und schon läuft’s. Zumindest bis zum besagten Treppenlift. In diversen lustigen und weniger lustigen Filmen gründen ältere Menschen Rentnerbands, Wohngemeinschaften oder fliegen, um die Welt zu retten, ins All. Ziemlich nah an der Realität fanden zumindest wir in unserer Familie im letzten Jahr den Film „Honig im Kopf“. Dabei konnte niemand von uns Ende Dezember wissen, dass wir schon am 3.1.2015 in unserem eigenen Film gefangen sein sollten. Eine Komödie sollte es allerdings nicht werden, obwohl es gewisse tragikomische Momente hatte.

Kurz zu „Darstellern“: Unsere Familie besteht aus genau fünf Personen. Vater, Mutter, zwei Kinder und ein Enkel. Also ein sehr überschaubarer Pool an Protagonisten. Unser Vater ist ein von diversen Hirnblutungen vor 16 Jahren gezeichneter Mann, mit großen physischen und psychischen Defiziten. Unsere Mutter, die seither ihren Mann pflegt, konnte aber bis dato als rüstige taffe Rentnerin beschrieben werden. Der Sohn, ein vielbeschäftigter Pilot und Fluglehrer, der die meiste Zeit im Jahr beruflich im Ausland ist. Dann der Enkel, Polizist mit Zweitjob und aktiver Handballer. Und dann bin da noch ich. Die Krankenschwester für alle Fälle.

Am 3.1. fiel es nun unserer Mutter ein, dass ja noch Lotto zu spielen war. Da unsere Eltern seit mindesten 30 Jahren nicht ein einziges Mal vergessen haben zu tippen, die Zahlen längst auswendig kennen und sich ganz sicher sind, dass es ja irgendwann mal mit dem großen Gewinn klappen muss, konnten weder Schnee noch Eis unsere Mutter daran hindern, mal „schnell“ zum Lottoladen zu gehen. Das Unglück nahm seinen Lauf. Unweit der Wohnung stürzte sie. Als ich den Anruf von einem Rettungssanitäter bekam, hoffte ich immer noch auf die böse, böse Prellung und war einigermaßen erleichtert, dass man sie in das Krankenhaus brachte, in dem ich selbst arbeite. So konnte ich erst mal meinen Hund schnappen und zu unserem Vater fahren. Der in seiner Küche saß und sich wunderte, dass ich es war, die zur Tür reinkam. Wo er doch eigentlich auf seine Frau wartete.

Der nächste Anruf kam von einer meiner Kolleginnen aus der Notaufnahme. Und: Alle ahnen es. Nichts mit Prellung. Subcapitale Humeruskopffraktur. Wenn schon, dann machen wir es richtig. Zumindest war die Mutter aber gut versorgt. Doch was wird nun mit dem Vater, der ja rund um die Uhr betreut werden muss? Wie organisiere ich in einer Zeit, in der in Bayern entweder Wochenende ist oder ein Feiertag den anderen jagt und die Arbeitsfähigkeit von Ämtern und Behörden Richtung Stillstand geht, eine möglichst optimale Unterbringung? Und zwar zeitnah bitte. Denn nebenbei musste ich ja auch noch arbeiten gehen und die Situation auf Station – Krankheiten, Urlaube und unbesetzte Planstellen, das kennen wir ja alle – war eher bescheiden und frei zu nehmen war unmöglich. Zunächst haben mein Sohn und ich uns bei seinem Großvater abgewechselt und nebenbei war ich auf der Suche nach einer Kurzzeitpflege. Nach nur drei Tagen hatten wir es geschafft. Zumindest für die nächsten 28 Tage. Und dann? Es war ja nicht davon auszugehen, dass unsere Mutter innerhalb dieser Zeit wieder fit genug wird, um ihren Haushalt und die Pflege unseres Vaters zu bewerkstelligen.

Nun gibt es ja seit Anfang des Jahres das neue Gesetz zur Familienpflegezeit. Aber, wann nimmt wer von uns diese Zeit in Anspruch? Wann ist es sinnvoll? Wie lange wird diese Familiensituation anhalten? Also haben mein Bruder, mein Sohn und ich uns zusammengesetzt und eine in meinen Augen logistische Höchstleistung vollbracht, bei der alle Beteiligten optimal versorgt werden und dennoch die täglichen persönlichen Aufgaben und Herausforderungen, denen wir ja ohnehin ausgesetzt sind, zu schaffen. Während mein Bruder zwei Mal in der Woche 600 km im Kreis fuhr, um unsere Eltern zu besuchen und die schmutzige Wäsche einzusammeln (die ich dann in den nächsten drei Tagen waschen musste, damit er sie dann wieder abholen konnte – ich kam mir vor, wie in einer Großfamilie!) und sich mit diversen Versicherungen auseinandersetzen musste, hat mein Sohn seinen Großvater im Altenheim bei Laune gehalten, der die Welt nicht mehr verstand und nur ein Ziel hatte: nach Hause zu kommen. Mir fiel außerdem der Kampf mit den Krankenkassen meiner Eltern zu. Auch ein Erlebnis der besonderen Art. Ich habe alles über Verhinderungspflege gelernt. Über Hauswirtschafterinnen, die 25 Euro in der Stunde kosten, aber nur mit 5–8 Euro von den Krankenkassen bezuschusst werden. Auch dass Krankenkasse und Pflegekasse unterschiedliche Institutionen sind und beide durchaus in verschiedenen Stadtteilen sein können mit nicht unbedingt arbeitnehmerfreundlichen Öffnungszeiten. Ich habe in dieser Zeit, die ja noch nicht zu Ende ist, gelernt, dass gewisse Beziehungen durchaus nützlich sein können, dass es empathische und weniger empathische Arbeitgeber gibt, dass Kollegen und Freunde hilfreich zur Seite stehen, wenn es eng wird (schließlich hatte ich ja auch noch meinen Hund zu betreuen) und dass wir als Kinder und Enkelkind durchaus zusammenhalten und schwierige Situationen erfolgreich meistern können. Wir haben aber auch gelernt, dass ohne den finanziellen Background meines Bruders alles erheblich schwieriger hätte sein können, als es ohnehin schon ist.

Jedenfalls kann ja älter oder alt sein ganz toll sein. Solange man gesund ist, die nötigen Rücklagen und eine gute Krankenkasse hat und von einer guten Familie umgeben ist. Außerdem waren wir als Familie so gar nicht darauf eingerichtet, dass es unsere Mutter mal so erwischen kann, weil ja seit Jahren unser Focus und unsere Sorge auf dem Vater lagen. Ein Lernprozess und Aha-Effekt auch für uns.

Übrigens, der Fahrer unseres Lieferservices, den wir seitdem mindestens zwei Mal in der Woche bemühen, weil wir zu kaputt sind um uns selbst etwas zu essen zu machen, kommt nun schon strahlend die Treppe hoch und bringt gratis Wein mit. Wir sind jetzt wahrscheinlich Freunde fürs Leben.

Ihre

Heidi Günther