Pädiatrie up2date 2015; 10(03): 195-196
DOI: 10.1055/s-0035-1547173
Editorial
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Michael Radke
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Publication Date:
02 September 2015 (online)

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Michael Radke

„Kinder- und Jugendmedizin im Spannungsfeld zwischen Demografie, Ressourcendistribution und wissenschaftlicher Differenziertheit“. Unter dieser Überschrift habe ich kürzlich eine Vorlesung vor Studenten des 8. Semesters des Studiengangs Humanmedizin gehalten. Die betreffende Universität ist eine der ältesten Deutschlands und begeht 2019 ihr 600. Gründungsjubiläum – ihre Medizinische Fakultät war seinerzeit Mitbegründerin. In Vorbereitung dieser Vorlesung habe ich mich gefragt, ob es überhaupt opportun sei, Studierende der Medizin mit einer solchen Vorlesung zu konfrontieren – schließlich ging das ja zu Lasten der knapp bemessenen Vorlesungsstunden im Fachgebiet Kinder- und Jugendmedizin. Es gab eine ganze Palette von Argumenten dagegen, aber noch mehr, die dafür sprachen, dem wissenschaftlichen bzw. ärztlichen Nachwuchs ein solches Thema nahezubringen.

Wer daran zweifelt, sich mit dem derzeitigen Stand und den mittel- und langfristigen Entwicklungsperspektiven des Gesundheitssystems (treffender und ehrlicher – der Gesundheitswirtschaft) und der Stellung der Kinder- und Jugendmedizin darin zu befassen, mag sich beispielhaft die jüngsten Initiativen pädiatrischer Fachgesellschaften bzw. Interessenvertreter ansehen:

Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin – die Dachorganisation der wissenschaftlichen Gesellschaften der Fachgebiets und ihres Berufsverbandes – hat eine Zukunftskommission begründet, deren zentrale Zielsetzung lautet: „Gesund aufwachsen – Strukturempfehlung für die bestmögliche körperliche, geistige und psychosoziale Versorgung der Kinder und Jugendlichen in Deutschland aus der Sicht der Kinder- und Jugendmedizin“.

Als dominierende Arbeitsthemen wurden formuliert:

  • Uneingeschränkter Zugang für alle Kinder und Jugendlichen zu Strukturen der medizinischen, geistigen und psycho-sozialen Versorgung in zumutbarer Entfernung nach Qualitätsstandards auf internationalem Niveau.

  • Überwindung von fachlichen und strukturellen Sektorengrenzen, enge und gemanagte Vernetzung der Leistungserbringer und Helfer zur Versorgung von Kindern und Jugendlichen.

  • Bedarfsgerechte Planung der medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen (inklusive präventiver Aspekte) unter Berücksichtigung der Demografie, der Epidemiologie und der gesundheitspolitischen und ökonomischen Entwicklungen

  • Sicherung der akademischen Forschung (Forschungszentrum) und der bedarfsgerechten Weiterentwicklung von Lehre und klinischer Aus- und Weiterbildung als wesentliche Voraussetzung einer effektiven Qualitätssicherung in der Kinder- und Jugendmedizin.

Diese lobenswerte und im Sinne eines „Lobbyismus für das kranke Kind“ dringend notwendige Aktion erinnert an die Geschichte der Pädiatrie – mit eben diesen und ähnlich formulierten Argumentationen wurde am Ende des 19. Jahrhunderts die Etablierung der Kinderheilkunde als medizinische Disziplin in Deutschland begründet und die Notwendigkeit der Einrichtung pädiatrischer Lehrstühle an den Medizinischen Fakultäten gegen deren Widerstand „befeuert“.

Sind wir also wieder da angekommen, wo wir vor 125 Jahren waren – ist die Zukunftssicherheit der Kinder- und Jugendmedizin gefährdet?

Eine Aktion, die federführend von der GKinD (Gesellschaft der Kinderkliniken und Kinderabteilungen Deutschlands), der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) und weiteren Verbänden gestartet wurde, lässt dies annehmen: Das gemeinsame Projekt „Rettet die Kinderstation“ aus dem Jahr 2013 macht auf strukturelle, für einige Kinderabteilungen auf z. T. existenzbedrohende Entwicklungen in der deutschen Gesundheitswirtschaft aufmerksam.

Die Aktion gipfelte in folgenden Forderungen:

  • Gewährung eines Sicherstellungszuschlags für Kinderkliniken,

  • Erhalt der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege als Ausbildungsschwerpunkt

  • in der Erstqualifikation,

  • Absicherung bzw. Etablierung von pädiatrischen Spezialambulanzen und Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ).

„Politik (will sagen – Gesundheitspolitik) fängt mit der Betrachtung der Wirklichkeit an“. Die Wirklichkeit sieht heute so aus, dass selbst manche Universitätskinderkliniken in Deutschland nicht mehr über eine abgerundete fachliche Expertise in der gesamten Breite unseres Faches verfügen. Sollte dem an den meisten Standorten (noch) so sein, so stellt sich zwingend die Frage nach der „Agenda 2025“. Haben wir in 10 Jahren – flächendeckend und für jedes (chronisch) kranke Kind in akzeptabler Entfernung vorhanden – noch das spezialfachärztliche Knowhow im Angebotsportfolio unserer Kliniken?

Es ist gut und auch von der Öffentlichkeit goutiert, dass sich die deutsche Kinder- und Jugendmedizin in den letzten Jahren immer wieder zu Wort gemeldet und alle Podien und Foren genutzt hat, um mit politischen Entscheidungsträgern, Vertretern der Kostenträger und anderen „Playern“ im System ins Gespräch zu kommen. Tue Gutes und rede darüber! Das müssen wir Kinder- und Jugendärzte auch weiterhin sehr engagiert und pointiert bei jeder Gelegenheit tun.

Bei den jungen und ganz jungen Kolleginnen und Kollegen in der Medizin müssen wir anfangen. Ich habe meine Vorlesung als einen solchen Beitrag verstanden und sie gespickt mit Termini technici aus dem „System“: Basisfallwert, DRG, untere und obere Grenzverweildauer, Case-Mix-Index, KV, Ermächtigungsambulanz, Richtgröße, Arzneimittel- und Laborbudget. Die Studenten haben am Ende der Vorlesung verstanden, warum es in Deutschland nur noch ganz wenige Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht von 752 oder 1510 g, dafür überzufällig mehr jene mit einem Geburtsgewicht von 748 bzw. 1495 g gibt. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt …

Ihr Prof. Dr. med. Michael Radke
Schriftleiter der Pädiatrie up2date