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DOI: 10.1055/s-0034-1398309
WHO-Sectiorate – Einfluss auf die globale maternale und neonatale Mortalität
Publication History
Publication Date:
11 February 2016 (online)
Hintergrund: Eine Kaiserschnittentbindung stellt in vielen Fällen für Mutter und Kind einen lebensrettenden Eingriff dar. Da eine solche operative Intervention dennoch potentielle Risiken und Komplikationen birgt, empfiehlt die World Health Organization (WHO) eine „optimale“ Sectiorate von 10–15 pro 100 Lebendgeburten. In vielen Ländern werden jedoch deutlich höhere Sectioraten beobachtet. Molina und Kollegen haben anhand aktueller populationsbezogener Daten analysiert, bei welcher Sectiofrequenz die minimale maternale und neonatale Mortalität erreicht wird.
Methoden: Die US-amerikanische Arbeitsgruppe hat mit Hilfe verschiedener internationaler Datenbanken populations- und gesundheitsbezogene sowie ökonomische Parameter aller 194 WHO-Mitgliedsstaaten ausgewertet. Insbesondere die Gesamt- und die urbane Bevölkerungszahl, die Lebenserwartung bei der Geburt, das Bruttoinlandsprodukt, die Gesundheitsausgaben pro Kopf, die Fertilitätsrate sowie die nationalen Geburten- und Mortalitätsraten gingen in die Analyse ein. Anhand der Daten des Zeitraums zwischen 2005 und 2012 wurde der Zusammenhang zwischen der aktuellen landesspezifischen Sectiorate sowie der maternalen und neonatalen Mortalität evaluiert.
Ergebnisse: Nur von 54 Ländern war die exakte Sectiorate des Jahres 2012 bekannt. In 118 Fällen konnte die Sectiorate anhand der Daten vorangegangener Jahre extrapoliert werden, und in 22 Fällen, in denen gar keine Informationen zur Kaiserschnittfrequenz vorlagen, erfolgte die Schätzung der aktuellen Sectiorate anhand der populations- und gesundheitsbezogenen sowie der ökonomischen Daten der einzelnen Länder. Im Berechnungsjahr 2012 wurde die niedrigste Sectiofrequenz im Südsudan (0,6 %) und die höchste in Brasilien (55,6 %) beobachtet. Die geschätzte Gesamtzahl der Kaiserschnittentbindungen im Jahr 2012 betrug 22,9 Mio. (95 %-CI 22,5–23,2), was einer globalen Sectiorate von 19,4 pro 100 Lebendgeburten (95 %-CI 18,5–20,3) entspricht. Auf nationaler Ebene ließ sich nach Adjustierung bezüglich populationsbezogener und geografischer Daten bis zu einer Sectiorate von 19,1 (95 %-CI 16,3–21,9) bzw. 19,4 (95 %-CI 18,6–20,3) pro 100 Lebendgeburten eine Abnahme der maternalen (p = 0,003) bzw. neonatalen (p < 0,001) Mortalität nachweisen. Höhere Sectioraten korrelierten nicht mit der maternalen oder neonatalen Mortalität. Wurden nur die 76 Länder mit der zuverlässigsten Schätzung der Sectiorate in die Analyse einbezogen, errechneten sich vergleichbare Ergebnisse: Bis zu einer Sectiofrequenz von 20,1 bzw. 24,0 pro 100 Lebendgeburten zeigte sich eine Abnahme der maternalen bzw. neonatalen Mortalität.
Die umfangreichen Studiendaten belegen, so das Fazit der Autoren, dass bis zu einer länderspezifischen Sectiorate von etwa 19 pro 100 Lebendgeburten in den WHO-Mitgliedsstaaten von einer Abnahme der maternalen und neonatalen Mortalität ausgegangen werden kann. Die von der WHO empfohlene „optimale“ Sectiofrequenz sei angesichts dieser Analyseergebnisse zu niedrig und müsse korrigiert werden. Molina et al. warnen jedoch vor einer unreflektierten Übertragung der Ergebnisse auf die verschiedenen Länder, da nicht in allen WHO-Mitgliedsstaaten und deren einzelnen geografischen Regionen dieselben Standards und Ressourcen bezüglich der geburtshilflichen Sicherheit und Qualität vorausgesetzt werden könnten.
D‘Alton ME, Hehir MP. Cesarean Delivery Rates: Revisiting a 3-Decades-Old Dogma. JAMA 2015; 314: 2238–2240
Trotz der im Jahr 1985 von der WHO gegebenen Empfehlung, die nationalen Sectioraten auf 10–15 % zu begrenzen, lässt sich seither weltweit eine stete Zunahme des Anteils von Kaiserschnittentbindungen beobachten. Während in den USA, Kanada und Australien der Sectioanteil bei rund 30 % der Geburten liegt, erreichen einige südamerikanische Länder Raten von bis zu 50 %. In einigen brasilianischen Privatkliniken kommen sogar rund 90 % der Kinder per Kaiserschnitt auf die Welt.
Molina und Kollegen haben anhand der Daten aus 194 WHO-Mitgliedsstaaten den Zusammenhang zwischen der populationsbezogenen Kaiserschnittfrequenz und der maternalen und neonatalen Mortalität untersucht und schlussfolgern, dass bei einer Sectiofrequenz von etwa 19 % das bestmögliche Outcome für Mutter und Kind erreicht werden kann. Die Ergebnisse dieser großen und in ihrem Design einzigartigen Studie stellen das 30 Jahre alte „WHO-Dogma“ in Frage und haben, so D‘Alton und Hehir, signifikante Auswirkungen auf die globale Gesundheitspolitik.
Das bedeutendste Ergebnis der Analyse von Molina et al. bestehe in der Erkenntnis, dass weitere, von den nationalen Fachgesellschaften initiierte, multidisziplinäre Studien notwendig seien, um risikoadjustierte Sectioraten für die verschiedenen nationalen Populationen zu evaluieren. Die optimale Sectiorate sei nicht in Form eines „One-fits-all“-Konzepts auf die einzelnen Länder zu übertragen, sondern die geburtshilfliche Gemeinschaft müsse akzeptieren, dass eine „optimale“ Sectiorate aufgrund der unterschiedlichen geburtshilflichen Voraussetzungen der länderspezifischen Gesundheitssysteme und -ressourcen nicht existiere. Die Sectiorate könne daher zukünftig nicht mehr als alleiniger Qualitätsindikator für die Patientenversorgung herangezogen werden. Vielmehr müsse bewertet werden, inwiefern das Sectio-Management unter Berücksichtigung der relevanten Charakteristika des jeweiligen Patientenguts und des Gesundheitssystems eine optimale Versorgung von Mutter und Kind zu gewährleisten vermag.
Dr. Judith Lorenz, Künzell