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DOI: 10.1055/s-0034-1396121
Die Qual der Wahl
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
03. Dezember 2014 (online)
Es ist besser, unvollkommene Entscheidungen zu treffen, als immer nach vollkommenen Entscheidungen zu suchen, die es niemals geben wird.
(Charles de Gaulle, 1890–1970, ehemaliger französischer Staatspräsident)
Wenn wir nicht gerade unter Decidophobie leiden, der Angst Entscheidungen zu treffen, vergeht nicht ein Tag unseres Lebens, an dem wir ebensolche, bewusst oder unbewusst, wichtig oder weniger wichtig und richtig oder leider manchmal auch falsch, treffen.
Wenn morgens um 4:15 Uhr mein Wecker klingelt, könnte ich mich theoretisch entscheiden aufzustehen oder nicht. Denn laut Definition ist eine Entscheidung eine Wahl zwischen Alternativen oder zwischen mehreren Varianten. Jetzt sind morgens um 4:15 Uhr die Varianten für oder gegen das Aufstehen relativ begrenzt, denn egal, welche Entscheidung ich beruflich oder privat treffe, muss ich auch mit dem Ergebnis oder den Folgen dieser Entscheidung leben. Also stehe ich lieber ohne groß nachzudenken auf, sitze Punkt 6:00 Uhr auf der Station und bekomme vom Nachtdienst eine Übergabe. Und schon treffe ich dann die nächsten nötigen Entscheidungen, damit wir alle einen reibungslosen, erfolgreichen und bestenfalls guten Arbeitstag hinter uns bringen können.
Unsere täglichen Entscheidungen sind geprägt von den politisch-gesellschaftlichen, moralischen, ökonomischen oder familiären Rahmenbedingungen. Und da ja niemand von uns im luftleeren Raum lebt, greifen viele unserer Entscheidungen auch in den Alltag anderer Menschen aus unserem Umfeld ein – oder aber anders herum.
Ein Beispiel: Mein Sohn hatte sich mit gerade mal 19 Jahren entschieden, mit seiner damaligen Freundin gemeinsam in eine Wohnung zu ziehen. Diese junge Frau war die allergrößte Liebe seines Lebens. Ich hatte mal wieder so gar keine Ahnung und spießig war ich außerdem, weil ich angenommen hatte, dass diese Beziehung noch zu frisch sei, um gleich zusammenzuziehen. Also ließ ich das Kind ziehen und suchte mir nach einigen Wochen eine kleinere Wohnung, denn allein auf 100 Quadratmetern zu leben, kam mir doch reichlich dekadent vor. Ich zog nach ermüdender Wohnungssuche – was in München wirklich kein Spaß ist – um, und wer hätte das gedacht: Nach etwa zwei Monaten stand mein Sohn mit diversen Umzugskisten in der Tür. Die große Liebe war vergangen. Eine Entscheidung mit vielen Folgeentscheidungen und Konsequenzen für mehrere Beteiligte. Aber immerhin war es ursprünglich mal eine Entscheidung!
Viele Menschen tun sich jedoch schwer, eine Entscheidung zu treffen. Entweder machen sie sich zu viel Druck, die richtige bzw. perfekte Entscheidung fällen zu müssen, schieben die Entscheidung endlos auf und lassen dann doch alles beim Alten, weil sie Angst haben, eine falsche Entscheidung zu treffen. Oder aber – und das ist oft einfacher und bequemer – sie halten sich aus allem raus und lassen andere Entscheidungen treffen. So sind sie dann auch an nichts schuld.
Oft haben persönliche Entscheidungen von Kolleginnen und Kollegen aber auch Konsequenzen und neue Entscheidungen mit und für das Team der Abteilung zur Folge: Eine Kollegin entscheidet sich, doch noch ein Studium zu beginnen, und verlässt sehr schnell und unerwartet die Station, eine andere möchte dann lieber in einer anderen Abteilung des Hauses arbeiten und bittet um Versetzung und wieder eine andere gründet eine Familie. Dann gibt es noch die Kolleginnen und Kollegen, die sich gar nicht entscheiden können, was sie wollen oder eben nicht, und so alle anderen mit dieser Unentschlossenheit auf Trab halten. Diese Unentschlossenheit ist der allgemeinen Stimmung und dem Betriebsklima auf einer Station oft nicht sehr dienlich. Und, ehrlich gesagt, manchmal nervt es mich und wahrscheinlich auch viele Mitarbeiter. Destruktivität und scheinbares Desinteresse bringt niemanden weiter. Sie hemmen Innovationen, neue Ideen, die persönliche und allgemeine Entwicklung – und am Ende heißt das Stillstand für alle Beteiligten. Doch wer nichts entscheidet, macht sich nicht angreifbar. Leider zeigt es sich, vor allem im politisch-gesellschaftlichen Leben, dass Nichtentscheider oft trotzdem erfolgreich sind, weil sie irgendwelche entscheidungsbedürftigen Situationen einfach aussitzen. Aber ich gebe nicht auf – weder im privaten Leben noch auf Station!
Mein Sohn ist seit der damaligen Aktion noch zwei weitere Male umgezogen und scheint mit seiner jetzigen Freundin in der jetzigen Wohnung angekommen zu sein. Aber immerhin hat er sich nie vor einer Entscheidung gescheut und hat auch lernen müssen, mit Fehlentscheidungen umzugehen. Und ich? Ich hätte mir meine damalige Aufregung, meine mütterlich-erzieherischen Monologe, meine Streitereien mit meinem Sohn und damit viel Nerven sparen können.
Was ist aber mit den ewig unentschlossenen und entscheidungsschwachen Mitmenschen? Gott sei Dank gibt es ja Ratgeber für jeden und alles. So auch zum diesem Thema. Gewissermaßen „Entscheidungsfindung leicht gemacht“! Es gibt Bücher, CDs und jede Menge Checklisten, in denen Pro und Kontra abgeglichen werden können. Wenn gar nichts geht, soll auch Hypnose hilfreich sein. Man muss sich nur entscheiden!