Balint Journal 2014; 15(03): 90
DOI: 10.1055/s-0034-1389947
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

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D. Mattke
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Publication Date:
15 October 2014 (online)

Eine kleine Ergänzung meinerseits (D.M.): Die China Eindrücke von Heide Otten teile ich von meiner eignen Erfahrung her. Von den 4 Balint Studientagungen in Peking, über die Heide Otten berichtet, habe ich 3 mitgemacht als Leiter einer Kleingruppe mit jeweils 8–12 Teilnehmern. In den ersten beiden Jahren wurden jeweils Fälle vorgetragen, in denen sich Arzt/Ärztin von Pa­tienten bedroht fühlten und bedroht wurden. In einem Fall im ersten Jahr wurde sogar zu einem heimtückischen Überfall berichtet. Während einer psychiatrischen Visite stieß eine Patientin dem Leitenden Arzt mit einem Messer in den Rücken. Das Messer durchschlitzte lediglich den Arztmantel, weil der Kung fu erfahrene Kollege sich blitzschnell umdrehte und den zustechenden Arm der Patientin ergreifen konnte. Die Pa­tientin wurde auf der Stelle vom die Visite begleitendem Sicherheitsdienst festgenommen und abgeführt. Das ging alles so blitzschnell, dass der Kollege keine näheren Angaben zu der Patientin und dem weiteren Verlauf machen konnte. Die Balintgruppe war geschockt, der Kollege erleichtert, dass er erstmals über den Fall in einer geschützten Umgebung sprechen konnte. Der Sicherheitsdienst hatte ihm Schweigen auferlegt. Bei der Schlussbesprechung nach den 5 Kleingruppen Sitzungen resümierte dieser Kollege, Kung fu Training betreibe er weiterhin und empfehle es allen seinen Kolleginnen und Kollegen, aber er nehme für sich mit, dass Supervisionsgruppen bzw. Balintgruppen in seiner Klinik eingeführt werden.

Von den 5 Kleingruppen Fällen in diesem Jahr greife ich einen Fall heraus: Eine Psychiaterin gab einen Bericht über eine erfolgreich abgeschlossene Behandlung eines 30-jährigen Mannes. Eine Sequenz aus der Abschlusssitzung mit dem jungen Mann lasse sie nicht los, sie müsse immer wieder an diese Szene denken, die sie nach wie vor ratlos mit sich trage. Der junge Mann fragte beim Abschied, ob er sie umarmen dürfe. Sie sei zurückgeschreckt und habe nicht antworten können und wisse bis heute nicht, was tun, wenn das wieder vorkomme und wie es dem Mann wohl gehe, der ebenso ratlos ihr Büro verlassen habe. In reger Anteilnahme seitens der Gruppe wurden ähnliche Situationen aus Behandlungen berichtet. Es wurde deutlich, dass es kein Pass partout für äußerlich zwar ähnliche Szenen geben könne. Vielmehr entwickelte die Gruppe die Einsicht, dass es auf die jeweilige Arzt-Patienten-Beziehung ankomme. Ein Lehrstück und Geschenk für eine gerade beginnende Balint-Gruppe! Die Gruppe hatte sich nicht nur intuitiv viel über Arzt-Patienten-Beziehungen erarbeitet, auch in der Gruppe selbst entspannten sich nach diesem Fallbericht und Balintgruppenprozess Klima und Beziehungen merklich. Das ist im konkreten Fall zudem erwähnenswert, weil sich in der ersten Sitzung geradezu resigniert-ablehnende Stimmungen und Haltungen ausgebreitet hatten. Dies geschah sehr explizit in Reaktion auf die erste Großgruppe, über die Heide Otten oben berichtet hat. Ich musste in der Leiterrolle sehr viel erklären, um die Gruppe zu motivieren, sich der eigenen Fallarbeit zu zuwenden. Dies gelang dann fast „wunderbarerweise“ in der 2.Sitzung mit dem „Hug“ – Fall, wie die Gruppe ihn nannte und sich zu eigen machte. Zusammengefasst stimme ich Heide Otten zu, dass so unterschiedlich die Balintarbeit in China von der unserigen nicht ist, hat man sich erst einmal auf die fremde Kultur eingelassen und an die Übersetzungsprozeduren angepasst. Der Hauptunterschied besteht in den drohenden oder tatsächlichen Gewalterfahrungen, die viele Arzt-Patienten-Beziehungen prägen und belasten. Auch bei uns gibt es drastische Übergriffe in den Beziehungen mit teilweise schrecklichem Ausgang. Allerdings wird in Balintgruppen meiner Kenntnis und Erfahrung nach nicht darüber berichtet. Ich erinnere aus jahrzehntelanger Balintarbeit keine derart drastischen und direkten Auseinandersetzungen in Arzt-Patient-Beziehungen, die in China manche Fälle prägen. Der rasante Wandel in den Lebenswelten der chinesischen Kolleginnen und Kollegen und ihrer Patienten mag hier Ausdruck finden. Wie Heide Otten oben ausführt, sind auch bei uns Rollenwandel, Status- und Rollenunsicherheiten zu bewältigen, aber es gibt ein schützendes Rechtssystem. Eine Mitreisende im Flieger von Shanghai nach Zürich, die sehr eloquent die sich wandelnden chinesischen Lebenswelten erläuterte und ausgesprochen positiv konnotierte, verblüffte mich mit ihrer Antwort, auf meine Frage zu ihren eignen Familienplänen. Kurz und knapp erfuhr ich, dass sie China verlassen werde mit ihrem ersten Kind. Weil die Luft in Europa sauberer sei und die Rechtssicherheit zuverlässiger. So ist es, wenn jemand eine Reise tut, es gibt viel und Widersprüchliches hier für den professionellen Kontext der Balint­arbeit zu erzählen. Sie werden sich selbst einen Reim darauf machen. Mir persönlich haben in der Vorbereitung auf die Reisen die verschiedenen Bücher zu China von Helmut Schmidt geholfen. Besonders in „Ein letzter Besuch“ von 2012, publiziert 2013 (Siedler Verlag) nimmt Schmidt mit großem Respekt Stellung, sogar zu den Massakern auf dem Platz des himmlischen Friedens, die in diesem Jahr (2014) sich zum 25. Mal jährten. Schmidt resümiert immer wieder, warum gerade wir Deutschen vor dem Reich der Mitte nicht Angst, wohl aber Respekt haben sollten und was Europa von der 4000-jährigen chinesischen Kultur lernen kann. Wir, Heide Otten und ich, sind dankbar für Verständnisse und Einsichten in unsere eigene Kultur, implizit die der professionellen Kultur der Balintarbeit, die wir durch die Balintarbeit mit den chinesischen Gastgebern erfahren haben.