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DOI: 10.1055/s-0034-1377330
Sitzen wir Ärzte im Cockpit?
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
01. Juni 2014 (online)
Diese Frage drängt sich aus zweierlei Gründen auf: Zum einen zielt sie darauf, wer denn im gegenwärtigen Gesundheitssystem die Richtung der Reise angibt. Zum anderen stellt sie sich bei der gegenwärtig breiten Diskussion des Streikrechts in Deutschland, die durch die Gewerkschaft der Lokführer Deutschlands (GdL) und eben durch den im Frühjahr von der Pilotenvereinigung Cockpit initiierten Arbeitskampf der Lufthansa-Piloten wieder neue Fahrt aufnimmt. Wird auch der Marburger Bund wieder in einem Atemzug mit einer „egoistischen Spartengewerkschaft“ zu diskutieren sein? Doch davon später …
Zunächst: Dass wir Ärzte im Gesundheitssystem Deutschlands im Cockpit sitzen – daran glauben wohl nur noch unverbesserliche Optimisten und naive Zeitgenossen. Ärztliche Selbstverwaltung hin oder her, wir haben uns aus der Mitgestaltung der Hauptentwicklungslinien des Gesundheitssystems weitgehend verabschiedet bzw. sind nicht gefragt, wenn es um Richtungsentscheidungen geht. Ob die Medizin in Deutschland weiter „durchökonomisiert“ und mit Blick auf die Länderebene „landkreisbezogen kleinteilig durchpolitisiert“ wird – nach dem Motto „jedem Landrat sein eigenes kleines Krankenhaus“ – oder ob sie wieder ein Teil der Daseinsvorsorge einer modernen aufgeklärten Gesellschaft sein soll, in der Landkreisgrenzen keine Rolle spielen, ist offen. Die Tendenz heute ist indes klar: Das Primat der Ökonomie scheint weiter an Fahrt zu gewinnen (siehe u. a. die jüngste Übernahmeaktion vieler Krankenhäuser durch einen großen privaten Krankenhauskonzern). Wir als Kinder- und Jugendärzte – besonders jene in Leitungsverantwortung – kommen hier in schwieriges Fahrwasser. Es geht um die Verteilung der Ressourcen, die heute weitgehend nach erlösoptimierten DRG erfolgt. Nicht umsonst haben wir in Deutschland gemessen an den zu versorgenden Patienten doppelt so viele Perinatalzentren Level I wie andere europäische Länder. Wir leisten uns ebenfalls mehr als 10 Zentren für Lebertransplantationen – auch für Kinder. Jeder weiß, dass dies zumindest unvernünftig ist, ökonomisch sowieso und aus Gründen der Qualitätssicherung in der klinischen Medizin allemal.
Schade dabei ist, dass wir Kinder- und Jugendärzte es nicht hinreichend schaffen, im Sinne einer konzertierten Aktion mit einer Meinung ein ernstgenommener Gesprächspartner der Politik zu werden. Auch in unseren Reihen gibt es erhebliche Meinungsverschiedenheiten über Mindestmengen in unserem Fachgebiet, Mindestfallzahlen von zukunftsfähigen Kinderabteilungen, über die Auffächerung unseres Faches in noch mehr Schwerpunkte und Zusatzweiterbildungen usw. Dabei müsste die Meinungsbildung unter uns stattfinden, erst dann sollten „der Politik“ unsere gemeinsam und gelegentlich hart erarbeiteten Standpunkte als Entscheidungsgrundlage präsentiert werden. Bis dato schaffen wir das nicht ausreichend.
Der Kampf um Ressourcen bleibt uns erhalten, trotz aller Wahlkampfreden auf den Marktplätzen dieser Republik. Kinder sind uns sehr viel wert – aber dürfen sie auch etwas kosten?
Unsere wissenschaftliche Gesellschaft, die DGKJ und alle mit Kindermedizin befassten Verbände halten es jedenfalls wieder einmal für angebracht, in diesem Frühjahr mit einer großen Plakataktion auf die Notwendigkeit einer ausreichenden Finanzierung zukunftsfähiger Kinderkliniken hinzuweisen.
Nun zum zweiten Cockpit-Bezug: Darf eine kleine Spartengewerkschaft wie Cockpit (oder der Marburger Bund) ein ganzes Land paralysieren? Und soll man wieder zum Prinzip zurückkehren „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“? Ist der Streik überhaupt eine geeignete Form der Auseinandersetzung der Ärzte mit ihrem Arbeitgeber?
Diese Fragen, institutionalisiert durch den Marburger Bund (MB), müssen diskutiert werden. Es gibt schon erste Befürchtungen beim MB, dass das Streikrecht in Deutschland ausgehöhlt werden könnte. Ob dies dem Betriebsfrieden in Krankenhäusern diente? Das darf bezweifelt werden. Die Angehörigen diesseits der Generation Y kennen noch allzu gut das System AiP und die krampfhafte Suche nach einer geeigneten Ausbildungsstelle mit einem akzeptablen Gehalt. Ich meine daher, es ist gut, dass sich die Ärzteschaft – auch mit Mitteln des Streikrechts – Positionen erkämpft hat, die heute selbstverständlich sind, früher aber undenkbar gewesen wären. Wenn dies mit Augenmaß auch in der Zukunft geschieht und eine Entsolidarisierung von den Pflegekräften, z. B. Kinderkrankenschwestern, vermieden werden kann, dann sollte das Streikrecht unberührt bleiben. Auch wenn es manchmal wehtut, weil für kurze Zeit ein Zug nicht fährt, ein Flugzeug am Boden bleibt oder im Krankenhaus nur Notfall-Patienten versorgt werden. Wenn ein großes Unternehmen oder eine Krankenhauskette beispielsweise Tarifverhandlungen zwei Jahre auf der Stelle treten lässt – welche Möglichkeit sich zu wehren gibt es denn, außer dem Streikrecht oder der Kündigung?
Mit Hinblick auf den jetzt schon offensichtlichen Ärzte- und Fachkräftemangel wären Pressionen der angestellten (jungen) Ärzte durch Beschneidung des Streikrechts doppelt kontraproduktiv.
Das Streikrecht in seiner jetzigen Form wird möglicherweise in letzter Instanz vor dem Bundesverfassungsgericht einer Prüfung unterzogen. Die veröffentlichte Meinung deutet darauf hin. Mögen sich alle Beteiligten mit Augenmaß in eine Entscheidung einbringen, die einer demokratischen Wissensgesellschaft würdig ist.
Prof. Dr. med. Michael Radke
Mitherausgeber der Pädiatrie up2date