Gesundheitswesen 2013; 75 - A279
DOI: 10.1055/s-0033-1354222

Lernort und lernende Organisation Krankenhaus. Ärztliche Weiterbildung in systemtheoretischer Perspektive

A Cassebaum 1, M Grautmann 1
  • 1Kreiskrankenhaus Frankenberg/Eder, Frankenberg

Einleitung: Ärztemangel in fast allen Sektoren des Gesundheitswesens imponiert als besondere Form des Fachkräftemangels, da er ein zentrales sozialstaatliches Gut tangiert. Der hohe gesellschaftliche und juristische Stellenwert von Facharztstandard und Versorgungssicherheit steht dabei im Kontrast zu Desorganisation und Zufall bei der Entstehung ärztlicher Expertise. Die Funktion von Krankenhäusern als Weiterbildungsstätten rückt in den Blickpunkt, da die Konversion des ärztlichen Arbeitsmarkts zum Käufermarkt besondere Anstrengungen bei der Personalakquisition erzwingt. Methodik: Am Beispiel der ärztlichen Weiterbildung werden die Institutionen des deutschen Gesundheitswesens einer systemtheoretischen Analyse unterzogen. Dabei interessiert besonders die Frage, welche Systemebene jeweils handlungs- und entscheidungsrelevant ist. Die Unterscheidung von System und Umwelt wird auf das Krankenhaus als betriebliche Einheit angewendet. Ärztemangel wird als externe Störung von Betriebsabläufen dargestellt, auf die das Krankenhaus strukturdeterminiert antwortet. Diese Antwort verweist auf Defizite und Leerstellen im übergeordneten System. Betriebswirtschaftliche, gesundheitsökonomische und professionspolitische Konsequenzen werden diskutiert. Ergebnisse: Selbstverwaltungsprinzip und die Sektorierung führen zu einer Übermacht der Subsysteme im deutschen Gesundheitssystem. Komplementär dazu ist die zentrale Systemebene eher schwach. Versorgungsplanung unterliegt schnell dem Verdikt der Staatsmedizin, dem gegenüber Einzelbetriebe und professionelle Körperschaften ihre Autonomie behaupten. Dies betrifft neben der Bereitstellung medizinischer Infrastruktur gleichermaßen die Erzeugung ärztlicher Kompetenz. Dabei ist der Kontrast zwischen dem hohen Rang, den der Facharztstandard bei der Definition von Versorgungsqualität genießt und dem Mangel an Struktur und Planung bei der Produktion ärztlichen Expertentums besonders eklatant. Krankenhäusern kommt dabei ganz überwiegend die nirgends explizit definierte Funktion der Facharztweiterbildung zu. Da diese aber mit den betriebswirtschaftlichen Zielen des Krankenhauses in keinem konstitutiven Zusammenhang steht, sind Prozess und Ergebnis von Weiterbildung chaotisch und arbiträr. Die Konversion des ärztlichen Arbeitsmarktes stellt den Umweltfaktor dar, der als Perturbation (Maturana) in die Betriebe hineinwirkt. Intelligentes Management wird im Sinne der lernenden Organisation (Argyris/Senge) diese Störung in innerbetriebliche Veränderungsimpulse umwandeln. Dies stellt den Betrieb vor ungekannte Herausforderungen, denn ärztliche Weiterbildung wird in den betriebsfernen Subsystemen der Professionspolitik konzipiert, die nach eigenen Systemlogiken funktioniert. Das fast vollständige Fehlen einer ärztlichen Post-Doc-Fachdidaktik verweist ebenfalls auf den Mangel an einer zentralen Systemperspektive und Handlungsebene. Insofern ist der „Wind of Change“ des Ärztemangels gleichzeitig Impuls zu dynamischer Entwicklung des Krankenhauses als Lernort ärztlicher Kompetenz, verweist gleichzeitig aber auf den Mangel an Versorgungsplanung, der das deutsche Gesundheitswesen von anderen Ländern unterscheidet. Schlussfolgerungen: Am Dilemma ärztlicher Weiterbildung wird offensichtlich, wie das deutsche Gesundheitswesen als ein Konglomerat autonom agierender Subsysteme funktioniert, die weitgehend gegeneinander agieren und füreinander den Status von Umweltfaktoren einnehmen. Den Krankenhäusern kommt die nirgends explizit formulierte Funktion ärztlicher Weiterbildung zu. Ein konstitutiver Zusammenhang dieser Funktion mit den betriebswirtschaftlichen Zielen besteht nicht. Die Störung des Ärztemangels wird krankenhausintern in strukturdeterminierte Managementimpulse umgesetzt, um die Chancen bei der Personalakquisition zu erhöhen. Damit können aber der zentrale gesundheitspolitische Mangel an ärztlicher Kompetenzentwicklung nur teilweise ausgeglichen werden. Ohne eine Priorisierung ärztlicher Weiterbildung und ihre Umsetzung in Versorgungsplanung und gesundheitsökonomische Steuerungsimpulse werden die momentan erkennbaren Weiterbildungsbemühungen der Krankenhäuser sich als instabil erweisen, sobald sich der ärztliche Arbeitsmarkt wieder dreht.