Gesundheitswesen 2013; 75 - A186
DOI: 10.1055/s-0033-1354145

Grenzen des Sparens – „European Public Health” unter den Bedingungen von Wirtschaftskrise und Sparpolitik

H Brand 1, N Rosenkoetter 1, T Clemens 1, K Michelsen 1, P Schroeder-Baeck 1
  • 1Universität Maastricht, die Niederlande, Maastricht

Einleitung/Hintergrund: Die WHO- und EU-Mitgliedstaaten haben sich zu Prinzipien von „good governance” sowie einer Verringerung von gesundheitlichen Ungleichheiten bekannt. Gleichzeitig wirken in der EU die gegenwärtige Wirtschafts- und Finanzkrise und eine darauf reagierende Austeritätspolitik auf die sozialen Determinanten von Gesundheit und auf die Gesundheitssysteme. Welche gesundheitlichen Folgen haben die Krise und die politischen Reaktionen? Wie sind die politischen Krisenreaktionen der EU-Mitgliedstaaten sowie der EU unter Berücksichtigung der Prinzipien von „good governance” zu bewerten? Daten/Methodik: Ausgewertet wurden deutsch- und englischsprachige Konzepte und Studien zu den Auswirkungen von Krise und Krisenpolitik auf die sozialen Determinanten von Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheiten in der EU. Veröffentlichungen internationaler Institutionen (EU, WHO und OECD), europäischer Institute (z.B. European Observatory of Health Systems and Policies) und Netzwerke (z.B. EuroHealthNet, European Hospital and Healthcare Federation etc.) wurden einbezogen. Ergebnisse: Politische Interventionen zielen auf Einsparungen in den öffentlichen Haushalten, Ausgabenbegrenzungen und insbesondere in der Gesundheitspolitik auf eine größere Effektivität und Effizienz. Im Hinblick auf gesundheitliche Auswirkungen dieser politischen Interventionen sind jedoch ethische, politische, juristische und ökonomische Grenzen zu bedenken. Die Finanz- und Wirtschaftskrise und die entsprechenden politischen Reaktionen haben sich in mehreren Ländern negativ auf die sozialen Determinanten von Gesundheit ausgewirkt. Insbesondere in Ländern mit ressourcenärmeren Gesundheitssystemen haben gesundheitspolitische Maβnahmen den negativen Auswirkungen der Krise oftmals nicht entgegengewirkt. Mitunter haben sie diese sogar verstärkt (insbesondere in Griechenland, Portugal und Spanien). Hier ist eine Verschlechterung der sozialen und gesundheitlichen Lage insbesondere vulnerabler Bevölkerungsgruppen, eine Zunahme der Prävalenz psychischer Gesundheitsproblemen (Depressionen, Angstzustände und Selbstmorde) sowie ein Anstieg in der Rate von Infektionserkrankungen (HIV in Griechenland) zu beobachten. Weitere negative bzw. mittel- und langfristige Auswirkungen lassen sich aufgrund eines Datenmangels derzeit nicht belegen, aber aufgrund von Studien über die gesundheitlichen Auswirkungen vorangegangener Krisen und soziale Ungleichheiten begründet erwarten. Die Verschlechterung von Bevölkerungsgesundheit und Gesundheitsinfrastruktur kann zu zusätzlichen Kosten führen, die dem Ziel von Einsparungen in öffentlichen Haushalten zuwiderlaufen. Vorgebliches Sparen ist mitunter lediglich eine Verlagerung von Belastungen, die mit einem Anstieg gesundheitlicher Ungleichheit einhergeht. Diskussion/Schlussfolgerung: Politische Entscheidungen müssen im Licht ihrer Auswirkungen bewertet werden – insbesondere, wenn sie nur schwer rückgängig zu machen sind (z.B. Privatisierungen). Kurzfristige Entlastungen öffentlicher Haushalte sollten in Relation zu zukünftigen Kosten evaluiert werden. Laut WHO-Tallinn Charter soll Gesundheitspolitik an Solidarität, Bedarfsangemessenheit (equity), Investitionen in Gesundheit, Transparenz, Verantwortlichkeit und einer Einbeziehung von „Stakeholdern“ in Politikentwicklung und Implementierung ausgerichtet werden. Die WHO Rahmenstrategie „Gesundheit 2020” und EU-Dokumente beinhalten Bekenntnisse zu „good governance” und einer Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit. Es gilt, diese Bekenntnisse zu stärken und zu Prüfsteinen von politischen Entscheidungen mit Auswirkungen auf die Bevölkerungsgesundheit zu machen. Dies gilt aufgrund zunehmender gesundheitspolitischer Einflussnahme auch für die EU. Darüber hinaus gilt es, dem verfügbaren Wissensstand Geltung zu verschaffen, ihn durch die Weiterentwicklung der Gesundheitsberichterstattungs- und -informationssysteme zu erweitern und in die Auseinandersetzung um die Ausgestaltung von Politik – unter besonderer Berücksichtigung der Grenzen des Sparens – einzubringen.