Gesundheitswesen 2013; 75 - A162
DOI: 10.1055/s-0033-1354129

„Ich sehe nur, wie sich die Menschen plagen“: GESUNDHEITSVORSTELLUNGEN, -RISIKEN UND -VERHALTEN VON BERUFSPOLITIKERN – eine empirische Analyse

D Böning 1
  • 1Georg-August Universität Göttingen, Göttingen

Hintergrund: Berlin, Deutschland. Berufspolitiker: Entscheidungsträger, Repräsentanten, Vorbilder, Meinungsbildner – als was betrachten sie sich nicht selbst und werden auch von außen als solche betrachtet und benannt: die Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Doch: heißt dies nicht auch im Umkehrschluss: Kranke Berufspolitiker: kranke Entscheidungsträger, kranke Repräsentanten, kranke Vor- und Meinungsbild(n)er? In den letzten Jahren wurden subjektiv zunehmend die hohen Belastungen dieser Subgruppe in den medialen Vordergrund gerückt. Eine Reihe prominenter Beispiele wollte beziehungsweise – so schien es zeitweise – musste der Öffentlichkeit ihre Erkrankungen und Krisen offenbaren. Öffentliche Diskussionen schlossen sich an. Das Leben eines Berufspolitikers scheint keineswegs überwiegend von gesundheitsfördernden Einflüssen gesteuert. Die politische Tätigkeit steht an einer herausgehobenen – mit Anstrengungen verbundenen – gesellschaftlichen Position. Ist es dort möglich sich im Ernstfall krankschreiben zu lassen, der Arbeit fern zu bleiben, Tätigkeiten im Bedarfsfall zu reduzieren und sich (vollständig) auszukurieren? Wie entscheidend sind Konkurrenzdruck und öffentliches Ansehen, wenn es um private, persönliche Krisen geht? Wird der Politiker durch die Öffentlichkeit, durch seine exponierte berufliche Stellung oder sogar durch sich selbst „gezwungen“ fortwährend zu funktionieren? Und weiterführend: Hat eine Krankheit Einflüsse auf die jeweilige politische Strategie des Betroffenen? Könnte diese daher eine – ob symbolisch oder real – destabilisierende Wirkung auf unser gesellschaftliches und politisches System ausüben, sollten gesellschaftliche Schlüsselfunktionen durch (zeitweise) erkrankte Personen ausgefüllt werden? Eine Studie, welche sowohl die Gesundheitsvorstellungen, die Gesundheitsrisiken sowie das Gesundheitsverhalten Bundestagsabgeordneter hinterfragt, lag zum Untersuchungszeitpunkt weder im deutschsprachigen Raum noch weltweit vor (Forschungslücke). Vereinzelte Ansätze, welche jedoch jeweils nur einen Teilbereich der Thematik abdecken, werden auf internationaler Ebene von dänischen, niederländischen und englischen Forschern präsentiert. Daten und Methodik: Leitfadengestützt wurden zur Datenerhebung der qualitativ angelegten Studie insgesamt 21 Interviews mit Bundestagsabgeordneten der 17. Wahlperiode aller zum Untersuchungszeitpunkt (2010 – 2013) im Deutschen Parlament vertretenen Parteien (CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke) geführt. Die Datenanalyse erfolge mittels Grounded Theory (Glaser/Strauss). Der Methode der maximalen Kontrastierung folgend wurden Interviews solange miteinander in Beziehung gesetzt bis eine theoretische Sättigung erreicht wurde. Zusätzlich wurde eine Typenbildung angestrebt. Basierend auf dem Salutogenesebegriff Antonovskys, verschiedensten Stress- und Bewältigungstheorien sowie eingebettet in den Kontext der Medizin- und Gesundheitssoziologie wurden Gesundheitsvorstellungen, -risiken und -verhalten der Repräsentanten nähergehend analysiert und Bezüge von subjektiven Krankheits- und Krisenerfahrungen zu gesundheitspolitischen Konzepten der Befragten hergestellt. Ergebnisse und Diskussion: Im Zuge der Analyse offenbar wurden Differenzen im Gesundheits- und Krankheitsverhalten der Abgeordneten u.a. bezüglich Alter, Geschlecht sowie politischer Orientierung. Copingmechanismen verschiedenster Arten traten hervor. Das Gesundheitsverhalten modulierende Faktoren wie beispielsweise Arbeitseinteilung, Arbeitsplatzgestaltung, Freizeit- und Reiseaktivitäten, Ernährungsverhalten, Präventionsmaßnahmen, Ressourcen, Bewegung im Alltag, Konkurrenzdruck und Stigmatisierbarkeit traten explizit hervor. Gesundheitsvorstellungen und -risiken des Berufsalltag im Deutschen Bundestag wurden reflektierend den Interviewteilnehmern aufgezeigt. Es konnten sechs klar voneinander abgrenzbare Typen gebildet werden, welche deutliche Kontraste im Gesundheitsverhalten zueinander bilden. Interessanterweise sprachen nahezu alle Studienteilnehmer – trotz ihrer prominenten gesellschaftlichen Position – recht offen über Gesundheitsstatus und zurückliegende Krankheits- und Krisenerfahrungen. Die Studie leistet einen wichtigen Beitrag zur Förderung eines optimierten Gesundheitsverhaltens sowie zur Prävention berufsbedingter Erkrankungen und wurde bereits u.a. in Verona, Trondheim präsentiert.