Gesundheitswesen 2013; 75 - A156
DOI: 10.1055/s-0033-1354123

Gratifikationskrisen in der Haus- und Familienarbeit – Gibt es Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Müttern?

S Sperlich 1, S Geyer 1
  • 1Medizinische Soziologie, Medizinische Hochschule Hannover

Hintergrund und Fragestellung: Aus medizinsoziologischen Studien ist bekannt, dass eine Gratifikationskrise, d.h. ein Ungleichgewicht zwischen hoher Verausgabung und geringer Anerkennung bzw. Belohnung im Erwerbsleben mit erheblichen Gesundheitsrisiken assoziiert ist (Siegrist 1996). Im Rahmen einer von der DFG geförderten Studie wurde diese Theorieannahme auf den unbezahlten Arbeitsplatz Haushalt und Familie übertragen. In diesem Beitrag wird der Frage nachgegangen, ob sich zwischen ost- und westdeutschen Müttern Unterschiede in dem Ausmaß von Gratifikationskrisen ermitteln lassen und wenn ja, auf welche sozialstrukturellen Determinanten dies zurückgeführt werden kann. Methode: Der neu entwickelte Fragebogen zur Messung von 'Gratifikationskrisen im Tätigkeitsfeld Haushalt und Familie‘ (Sperlich et al. 2009) wurde an einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe von Müttern minderjähriger Kinder aus den alten (n = 2582) und neuen Bundesländern (n = 433) eingesetzt. Dieser enthält Fragen zu vorwiegend quantitativen Arbeitsanforderungen und zu potenziellen Belohnungen der Haus- und Familienarbeit in den vier Bereichen 'ideeller Lohn/Sinnhaftigkeit der Arbeit', 'gesellschaftliche Wertschätzung', 'Anerkennung vom Partner‘ sowie 'Zuneigung vom Kind'. Zudem kam ein Kurzfragebogen zur Verausgabungsneigung ('Overcommitment') zum Einsatz, der eine die Gratifikationskrise verstärkende Persönlichkeitseigenschaft erfasst. Das Vorhandensein einer Gratifikationskrise wurde berechnet als Quotient von Verausgabungs- und Belohnungsitems, eine Gratifikationskrise lag vor, wenn der Quotient über 1 lag. Zur Ermittlung signifikanter Unterschiede im Gratifikationskrisenrisiko zwischen ost- und westdeutschen Müttern wurden χ2 Tests nach Pearson gerechnet. Die Bedeutung von sozialen, familiären und beruflichen Einflussfaktoren auf bestehende Ost-West-Unterschiede wurde im Rahmen von aufeinander aufbauenden logistischen Regressionsrechnungen bestimmt. Ergebnisse: Die Mütter in Ost- und Westdeutschland sind im Durchschnitt 37 bzw. 39 Jahre alt, das jüngste Kind ist im Mittel neun bzw. zehn Jahre alt. Eine Gratifikationskrise im Tätigkeitsfeld Haushalt und Familie lag bei 20,3% der westdeutschen, hingegen nur bei 13,5% der ostdeutschen Frauen vor. Differenzierte Analysen ergaben, dass westdeutsche Frauen eine deutlich geringere soziale Anerkennung und einen geringen ideellen Lohn der Haus- und Familienarbeit wahrnahmen. Das Ausmaß der Verausgabung in der Haus- und Familienarbeit sowie die Verausgabungsneigung (Overcommitment) unterschieden sich hingegen zwischen ost- und westdeutschen Müttern nicht. Von den untersuchten Einflussfaktoren erwiesen sich insbesondere die Erwerbssituation, die Zufriedenheit mit der Betreuungssituation der Kinder und die partnerschaftliche Aufgabenteilung als bedeutsam für die ermittelten Ost-West-Unterschiede. Schlussfolgerungen: Westdeutsche Mütter weisen im Vergleich zu ostdeutschen Müttern signifikant häufiger eine Gratifikationskrise auf, die auf eine kritischere Beurteilung der Belohnung der Hausfrauen- und Mutterrolle zurückzuführen ist. Familiäre und sozialstrukturelle Merkmale leisten einen signifikanten Beitrag zur Erklärung dieser Unterschiede. Zu vermuten ist, dass hinter diesen strukturellen Merkmalen auch unterschiedliche kulturelle Leitbilder der Mutterrolle wirksam sind.