Gesundheitswesen 2013; 75 - A99
DOI: 10.1055/s-0033-1354079

Polypharmazie in der ambulanten Versorgung von Versicherten mit ausgewählten chronischen Alterserkrankungen

A Singer 1, E Swart 2
  • 1Hochschule Magdeburg-Stendal, Institut für Sozialmedizin und Gesundheitsökonomie, Magdeburg
  • 2Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg

Hintergrund: Angesichts der demografischen Entwicklungen wächst der Anteil alter Menschen in Deutschland (Peters et al. S. 417). Die zunehmende Morbidität im Alter geht wiederum mit einem steigenden Medikamentenkonsum einher, weshalb der Thematik Polypharmazie heute und künftig eine hohe Relevanz beigemessen wird (Mertens 2009, S. 1). Polypharmazie kann ein erhebliches Gefährdungspotential für die Gesundheit älterer Menschen darstellen (Bjerrum et al. 1997, S. 7). Ziel des Projektes ist es neben der Ermittlung der Prävalenz von Polypharmazie im Alter den Einfluss maßgeblicher Determinanten der Inanspruchnahme (Alter, Geschlecht, Multimorbidität der Versicherten, Anzahl behandelnder Ärzte) bei der Entstehung von Polypharmazie zu analysieren. Methodik: Unter Polypharmazie wird die Einnahme von mindestens fünf Präparaten innerhalb eines Quartals verstanden (Mukthar 2010). Datenbasis sind Abrechnungsdaten der AOK Baden-Württemberg von 2005 bis 2010 aus einem Modellprojekt zur integrierten Versorgung. Berücksichtigt wurden ausschließlich in diesem Zeitraum durchgängig Versicherte, die am 01.10.2007 mindestens 55 Jahre alt waren. Verordnungen wurden anhand der Pharma-Zentral-Nummer (PZN) identifiziert und um die anatomisch-therapeutisch-chemischen (ATC-)Codes ergänzt. Mehrfach- sowie Doppelverordnungen, Substanzen zur lokalen Anwendung (Cremes, Salben und Tropfen), Impfstoffe und andere nichttherapeutische Hilfsmittel wurden ausgeschlossen. Zur Deskription der Krankheitslast werden die häufigsten mit dem Alter assoziierten chronischen Erkrankungen Arthrose, Osteoporose, Demenz, Diabetes mellitus, Herzinsuffizienz und koronare Herzkrankheit genutzt (Gerste und Günster 2012). Ergebnisse: Insgesamt erfüllten 8.711 von rund 10.000 Versicherten die Einschlusskriterien. Die Prävalenz von Polypharmazie stieg innerhalb des Berichtszeitraums in dieser alternden Kohorte von 25% auf 36%, wobei Frauen häufiger betroffen sind als Männer. Die Zahl derjenigen, bei denen mindestens zwei Erkrankungen vorlagen nahm von 21% auf 31% zu, wobei der Anteil multimorbider Frauen mit 35% deutlich über dem der Männer liegt. Die Versicherten bekamen durchschnittlich 3,7 Medikamente im Quartal verordnet, im Schnitt wurden 2,6 Ärzte pro Quartal kontaktiert. Mittels logistischer Regression wurde der Einfluss des Alters, des Geschlechtes, der Morbidität und der Anzahl der an einer Behandlung beteiligten Ärzte bei der Entstehung von Polypharmazie analysiert. Multimorbidität steigert die Wahrscheinlichkeit (Odds ratio) für Polypharmazie um das 3,5-fache. Das Risiko für Polypharamzie nimmt mit jedem weiteren Arzt um rd. 28% zu. Ferner steigt das Polypharamzierisiko pro Lebensjahr um 3,3% (p < 0,01). Nach Berücksichtigung dieser drei Variablen ist weiterhin das Geschlecht signifikant: das Risiko für Polypharmazie liegt bei Männern um 3% höher als bei Frauen (p < 0,05). Schlussfolgerung: Der Medikamentenkonsum wird nicht nur durch das Lebensalter wesentlich beeinflusst, auch die Morbidität der Versicherten und die an einer Behandlung beteiligten Ärzte spielen eine nicht unwesentliche Rolle. Multimorbidität allein kann aufgrund von leitliniengerechter Therapie mehrerer behandelnder (Fach-)Ärzte als eine mögliche Ursache von Polypharmakotherapie gesehen werden. Die Zahl der verordneten Medikamente lässt damit noch keine Aussagen über die Qualität der Pharmakotherapie zu. Die Routinedaten enthalten ausschließlich verordnete Arzneimittel, im Rahmen von Selbstmedikation eingenommene Arzneimittel fehlen. Ebenso können keine Aussagen über die Adhärenz (Einnahmetreue) der Patienten getroffen werden. Eine vertiefende Untersuchung könnte bei der Analyse spezifischer Medikamente ansetzen (PRISCUS) (Riens und Mangiapane 2012).