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DOI: 10.1055/s-0033-1354070
Stigmatisierung und Diskriminierung gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen: Was wir trotz zahlreicher Literatur noch immer nicht wissen
Hintergrund: Stigmatisierung beinhaltet drei Komponenten: Stereotypisierung, Vorurteile und Diskriminierung. Einer vielzitierten Definition zufolge entsteht sie, wenn Etikettierung, Stereotypisierung, Separation, Statusverlust und Diskriminierung im Kontext einer Situation mit einem Machtgefälle zusammen auftreten.[1] Obwohl psychische Krankheiten in der Bevölkerung verbreitet sind, werden gerade Menschen mit diesen Erkrankungen oft stigmatisiert und diskriminiert. Dabei findet die Stigmatisierung auf zwei Ebenen statt: Öffentlich (zum Beispiel durch Arbeitskollegen, Medien oder Fremde) und strukturell (zum Beispiel durch diskriminierende Gesetze). Ferner können Betroffenen stigmatisierende Gedanken internalisieren und gegen sich selbst richten.[2], In den letzten Jahren wurde eine zunehmende Anzahl von Primärstudien und systematischen Übersichtsarbeiten veröffentlicht, in denen die Wirksamkeit von Interventionen zu Reduktion der Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen untersucht wurde. Zu solchen Interventionen gehören zielgruppenorientierte Maßnahmen wie Aufklärungsinitiativen in Schulen oder am Arbeitsplatz, bevölkerungsbezogene Maßnahmen wie massenmediale Kampagnen und strukturelle Interventionen wie die Anpassung von Curricula in Bildungseinrichtungen, integrative Schulen oder Anti-Diskriminierungsgesetze. Anti-Stigma Interventionen lassen sich ferner nach ihrem Ansatz in edukative Maßnahmen, Kontaktinterventionen und Protestinterventionen unterscheiden.[3] Ziel dieser Arbeit ist, den aktuellen Forschungsstand zu Anti-Stigma-Interventionen systematisch aufzubereiten und methodisch zu bewerten. Methodik: Es wurde eine Recherche nach systematischen Reviews durchgeführt, die die Wirksamkeit von Anti-Stigma-Interventionen ausgewertet haben und innerhalb der letzten 10 Jahre veröffentlicht wurden. Relevante Arbeiten wurden über die Datenbanken Medline und DARE identifiziert. Alle Arbeiten, die die Einschlusskriterien erfüllten, wurden mit dem AMSTAR-Tool methodisch bewertet. Die Ergebnisse wurden narrativ ausgewertet. Auswahl und Bewertung der Übersichtsarbeiten wurden jeweils durch zwei Autoren unabhängig voneinander durchgeführt und konsentiert. Ergebnisse: Es wurden 1298 Abstracts gescreent und 24 Volltexte gesichtet. Eine Arbeit wurde aufgrund der Sprache (italienisch) und mangelnder Verfügbarkeit aus der Volltextsichtung ausgeschlossen. 15 Arbeiten erfüllten die Einschlusskriterien. Die methodische Qualität der systematischen Übersichten war überwiegend mangelhaft: Im Median erfüllten die Publikationen nur 2 von 11 AMSTAR-Kriterien (Spannweite: 1 – 8). Zwei systematische Übersichten hatten eine akzeptable bis hohe methodische Qualität. In einer dieser Arbeiten wurden die Auswirkungen simulierter Halluzinationen auf Empathie, Bedürfnis nach sozialer Distanz, Einstellungen und Wissen untersucht.[4] Die Interventionen erhöhten Empathie und verringerten das Bedürfnis nach sozialer Distanz. Bezogen auf die anderen Endpunkte zeigten sich heterogene Ergebnisse. Die zweite Arbeit wertete Studien aus, in denen Schulprogramme zur Verbesserung des Wissens über psychische Gesundheit evaluiert wurden.[5] Diese Arbeit fand insgesamt positive Effekte hinsichtlich Wissen, Einstellungen und Hilfesuchverhalten. Die Ergebnisse beider Arbeiten stehen unter dem Vorbehalt, dass die darin eingeschlossenen Primärstudien ein hohes Verzerrungspotential aufweisen, der Nachbeobachtungszeitraum in den meisten Studien gering war, selektive Personengruppen teilnahmen und überwiegend kognitive oder emotionale Endpunkte untersucht wurden. Schlussfolgerung: Die Anzahl der Primärstudien und systematischen Übersichtsarbeiten, in denen Anti-Stigma-Interventionen untersucht werden, nimmt zu. Bisherige Ergebnisse deuten in der Gesamtschau auf positive Effekte von Edukation und Kontaktinterventionen hin. Viele Primärstudien weisen jedoch ein hohes Verzerrungspotential auf und der Großteil der bislang durchgeführten systematischen Übersichten erfüllt aktuelle methodische Standards nicht. Zudem werden Effektmodifikatoren – etwa der Einfluss von Charakteristika der Kontaktperson in Kontaktinterventionen – in Übersichtsarbeiten nicht immer adäquat berücksichtigt. Viele Fragen bleiben unbeantwortet – etwa, wie sich die Chancen von Menschen mit psychischen Erkrankungen auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt verbessern lassen.