Gesundheitswesen 2013; 75 - A81
DOI: 10.1055/s-0033-1354063

Psychische Komorbidität in der somatischen Rehabilitation. Eine bundesweite Erhebung bei Rehabilitanden im erwerbsfähigen Alter

M Brünger 1, K Spyra 1
  • 1Charité – Universitätsmedizin Berlin, Institut für Medizinische Soziologie, Berlin

Hintergrund: Ein beträchtlicher Anteil an Rehabilitanden in der somatischen Rehabilitation weist psychische Beeinträchtigungen auf (Härter et al. 2007). Diese Rehabilitanden zeigen im Vergleich zu Patienten ohne psychische Komorbidität u.a. eine erhöhte Morbidität und Mortalität sowie eine geringere Lebensqualität (Baumeister, Härter, 2005). Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) Bund empfiehlt daher die Implementierung eines psychodiagnostischen Stufenplans in der somatischen Rehabilitation (Deutsche Rentenversicherung Bund, 2011). Es fehlt jedoch an aktuellen, bundesweiten Untersuchungen zum Ausmaß psychischer Komorbidität in der somatischen Rehabilitation. Ziel der vorliegenden Studie ist daher die Bestimmung der Prävalenz psychischer Beeinträchtigungen von Rehabilitanden im erwerbsfähigen Alter. Methoden: An 6.000 DRV Bund-Versicherte wurde 2011 ein Selbstauskunftsbogen zum Bewilligungszeitpunkt der medizinischen Rehabilitationsmaßnahme verschickt. Um Aussagen auf Indikationsgruppenebene treffen zu können, erfolgte die Stichprobenziehung von je 1.000 Rehabilitanden stratifiziert für die sechs häufigsten Diagnosegrundgruppen (exklusive psychosomatische und Sucht-Rehabilitation). Psychische Komorbidität wurde mithilfe der Kurzform des Patient Health Questionnaire (PHQ-4) in vier Abstufungen operationalisiert: keine, milde, moderate und schwere psychische Beeinträchtigung (Löwe et al. 2010). Neben soziodemographischen Angaben wurden weitere Reha-relevante Konstrukte erhoben, hierunter Komorbidität (SCQ-D), Beeinträchtigung durch Schmerzen (PDI), Selbstwirksamkeit (SWE), soziale Unterstützung (IRES) und besondere berufliche Problemlagen (SIMBO-Kurzform) (Brünger et al. 2012). Aufgrund der geringen Missingquote von insgesamt 7,4% auf Skalenebene wurde ein Complete Case-Ansatz verfolgt. Neben deskriptiven Analysen wurde eine binäre logistische Regression mit der Zielgröße moderate oder schwere psychische Beeinträchtigung und den berichteten übrigen erhobenen Beeinträchtigungen und Ressourcen als Einflussgrößen unter Kontrolle von Geschlecht und Alter durchgeführt. Um für die unterschiedliche Teilnahmebereitschaft von Frauen und Männern zu korrigieren, wurden die Studienteilnehmer entsprechend des 2011 real vorliegenden Geschlechterverhältnisses bei medizinischen Rehabilitationen der DRV Bund gewichtet. Aufgrund des geschichteten Designs wurden zudem Gesamtangaben entsprechend der tatsächlichen Diagnosegrundgruppen-Verteilung gewichtet. Ergebnisse: Von 5.891 postalisch erreichten Rehabilitanden nahmen 2.152 an der Studie teil (Rücklaufquote: 36,5%). In die Complete Case-Analyse gingen 1.992 Studienteilnehmer ein. Diese waren im Mittel 50,7 Jahre alt und zu 65,9% Frauen, Nichtteilnehmer 49,7 Jahre und zu 62,7% Frauen. Die Prävalenz schwerer psychischer Beeinträchtigungen betrug indikationsübergreifend 8,1% (Frauen 8,9%, Männer 6,7%), weitere 18,2% (Frauen 17,4%, Männer 19,6%) waren moderat und 38,6% (Frauen 41,6%, Männer 32,8%) mild beeinträchtigt. Keine psychische Komorbidität wiesen 32,1% der Frauen und 40,9% der Männer auf, insgesamt 35,1%. Die Prävalenz moderater oder schwerer psychischer Beeinträchtigungen auf Ebene der untersuchten Diagnosegrundgruppen reichte deskriptiv von 19,7% in der onkologischen Rehabilitation bis zu 32,3% in der Neurologie. Im Prädiktionsmodell waren hohe Komorbidität und Beeinträchtigung durch Schmerzen, niedrige Selbstwirksamkeit und soziale Unterstützung sowie das Vorliegen einer besonderen beruflichen Problemlage mit psychischer Beeinträchtigung assoziiert. Diskussion: Etwa ein Viertel der Rehabilitanden in der somatischen Rehabilitation weist aktuell eine moderate oder schwere psychische Komorbidität gemäß PHQ-4 auf. Die Prävalenz psychischer Komorbidität von Rehabilitanden liegt damit erheblich über derjenigen in der Allgemeinbevölkerung (Kurth, 2012). Dies unterstreicht die Relevanz der Diagnostik komorbider psychischer Störungen in der somatischen Rehabilitation. Ein Screening stellt hierfür einen ersten geeigneten Schritt dar. Durch den Einsatz eines Screenings bereits im Antragsverfahren könnte zudem die Zuweisung in Rehabilitationseinrichtungen, welche spezifische Konzepte zur Behandlung somatisch erkrankter Patienten mit psychischer Komorbidität vorhalten, optimiert werden. Förderung: Deutsche Rentenversicherung Bund