Gesundheitswesen 2013; 75 - A63
DOI: 10.1055/s-0033-1354049

Das Verhaltensmodell der Versorgungsinanspruchnahme von Andersen: aktueller Stand und theoretische Perspektiven

T von Lengerke 1
  • 1Medizinische Hochschule Hannover, Hannover

Das Verhaltensmodell der Inanspruchnahme gesundheitsbezogener Versorgung (Behavioral Model of Health Services Use Andersen, 1995 Andersen & Davidson, 2007 Andersen, Davidson & Baumeister, forthcoming) gilt als eine der international führenden Theorien zur Beschreibung und Erklärung der Inanspruchnahme gesundheitsbezogener Versorgung (Babitsch, Gohl & von Lengerke, 2012 Ricketts & Goldsmith, 2005). So wird es in Deutschland seit 2001 auch in der Gesundheitsberichterstattung des Bundes verwendet. Es unterscheidet sowohl auf kontextueller als auch auf individueller Ebene Bedarfsfaktoren (need factors) von prädisponierenden (predisposing) und ermöglichenden Faktoren (enabling factors) als Einflüsse auf individuelles Inanspruchnahmeverhalten. Im NWIn Research Network, einem von der DFG geförderten wissenschaftlichen Netzwerk zur Medizinsoziologie der Versorgungsinanspruchnahme in Deutschland, wurde es als Rahmenmodell für die theoretisch-konzeptionellen, methodologisch-methodischen und empirischen Analysen verwendet. Der vorliegende Beitrag gibt eine Übersicht über die theoretisch-konzeptionellen Ergebnisse (Janßen, Swart & von Lengerke, forthcoming von Lengerke, Gohl & Babitsch, forthcoming von Lengerke, Kowalski, Swart & Janßen, forthcoming). Eine aus sozialepidemiologischer Sicht zentrale Stärke des Verhaltensmodells liegt in der Möglichkeit, Equity bzw. Inequity im Zugang zu Versorgungsleistungen durch die Spezifikation von Bedarfsfaktoren im Unterschied zu prädisponierenden und ermöglichenden Faktoren zu systematisieren und empirisch abzubilden. Dieses Stärke könnte noch dadurch weiter gefördert werden, indem direkte Einflüsse nicht nur sozialer, sondern auch psychischer Faktoren als Inequity fördernd berücksichtigt werden. Eine weitere Stärke, die seit der fünften Version des Verhaltensmodells (Andersen & Davidson, 2007) besonders zu betonen ist, ist die strukturparallele Konzeptualisierung von Einflussfaktoren als prädisponierend, ermöglichend oder bedarfskonstituierend sowohl auf individueller als auch kontextueller Ebene. Damit lassen sich auf der Prädiktorenseite nicht nur theoretisch kohärente(re) Mehrebenenmodelle spezifizieren und entsprechend interpretieren, sondern auch allgemeinere Handlungs- oder Verhaltenstheorien aus der Soziologie oder der Psychologie problemloser auf das Verhalten professioneller Akteure im Gesundheitssystem anwenden. Auf Seiten der gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen (als vermittelnde Größen) und der Outcomes, zu denen seit der sechsten Modellversion (Andersen, Davidson & Baumeister, forthcoming) auch die Lebensqualität zählt, stellt sich die Frage, warum sie nur als individuelle Größen im Modell repräsentiert sind, da dieses entsprechende Prävalenzen und Inzidenzen aus dem Geltungsbereich des Modells ausschließt. Hier könnte eine Weiterentwicklung des Verhaltensmodells durch Annahmen des Verhaltensepidemiologischen Grundmodells (von Lengerke, 2012 von Lengerke & Abu-Omar, 2007) Ziel führend sein, das in Anlehnung an das Mikro-Makro-Modell der soziologischen Erklärung (z.B. Greve, Schnabel & Schützeichel, 2008) die Beschreibung und Erklärung kollektiver Explananda grundsätzlich erlaubt. Schließlich könnte im Hinblick auf die empirisch-statistische Anwendung des Verhaltensmodells eine Orientierung an der auf Baron und Kenny (1986) zurückgehende Unterscheidung zwischen Mediation und Moderation förderlich sein. Dabei wäre beispielsweise zu klären, ob nur ermöglichende Faktoren, die nach klassischer sozialökologischer Lesart Variablen darstellen, die Zusammenhänge anderer Variablen (hier vor allem zwischen Bedarfsfaktoren und Inanspruchnahme) moderieren, oder auch prädisponierende Faktoren Effekt modifizierende Größen darstellen können. Im Rahmen von Datenanalysen, die sich am Verhaltensmodell orientieren, hätte dies theorierelevante Implikationen für die Spezifikation sowohl von hierarchischen Modellen als auch von relvanten Interaktionen.