Gesundheitswesen 2013; 75 - A45
DOI: 10.1055/s-0033-1354034

Stadtgesundheit im Zusammenspiel von Straßenverkehrslärm und Lärmbelästigung – welche Implikationen hat die Verwendung von objektiven und subjektiven Indikatoren wohnkontextueller Lärmexposition für Studien zu umweltbezogener Gerechtigkeit?

N Riedel 1, J Scheiner 2, G Müller 3, H Köckler 4
  • 1Heinrich Heine Universität Düsseldorf, Institut für Medizinische Soziologie, Düsseldorf
  • 2TU Dortmund, Fakultät Raumplanung, Institut für Raumplanung, Dortmund
  • 3TU Dortmund, Fakultät Raumplanung, Fachgebiet Verkehrswesen und Verkehrsplanung, Dortmund
  • 4Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin, Münster

Hintergrund: Studien im Kontext umweltbezogener Gerechtigkeit verwenden zumeist entweder objektive oder subjektive Indikatoren wohnkontextueller Exposition gegenüber Straßenverkehrslärm (Kruize 2007). Jedoch decken sich die objektiv-räumlich modellierte Lärmbelastung und die subjektiv beurteilte Lärmbelästigung der BewohnerInnen nur teilweise und könnten als physikalische und psychosoziale Stressoren zusammenwirken oder auch unterschiedlich stark mit gesundheitsbezogenen Untersuchungsgrößen zusammenhängen (Job 1996 Babisch 2002 Miedema 2007). In dieser Arbeit wurde untersucht, ob der physikalische Stressor Straßenverkehrslärm mit subjektiv schlechter Gesundheit assoziiert ist und inwiefern dieser Zusammenhang durch den psychosozialen Stressor Lärmbelästigung vermittelt oder moderiert werden könnte. Methoden: Die Analysen behandeln subjektiv schlechte Gesundheit in zwei bevölkerungsbezogenen Studien im Ruhrgebiet, der epidemiologischen „Dortmunder Gesundheitsstudie“ (DOGS) und der verhaltenswissenschaftlichen „Spatial Analysis of households‘ Vulnerability to their local Environment“ (SAVE). Die Variablen der beiden Studien wurden weitestgehend harmonisiert und separat ausgewertet. Um das Zusammenspiel von objektiver Lärmbelastung und subjektiver Lärmbelästigung zu modellieren, wurden die räumlich modellierten Lärmpegel (nach den Lärmkarten der Europäischen Gemeinschaft, dichotomisiert am Grenzwert > 55 dB (A) Lden) mit starker Lärmbelästigung (dichotomisierte Likert Skala) in einer Expositionsvariable kombiniert. Probanden, die ≤55 dB (A) ausgesetzt und weniger lärmbelästigt waren, galten als Referenzgruppe, mit der drei Risikogruppen verglichen wurden: (1) diejenigen, die > 55 dB (A) ausgesetzt, aber weniger lärmbelästigt waren, (2) diejenigen, die ≤55 dB (A) ausgesetzt, aber stark lärmbelästigt waren sowie (3) diejenigen, die sowohl > 55 dB (A) ausgesetzt als auch stark lärmbelästigt waren. Für diese Gruppen wurde die Chance, einen schlechten Gesundheitszustand zu berichten, in multivariablen logistischen Regressionsmodellen geschätzt: Nacheinander wurden soziodemographische Faktoren (DOGS und SAVE), selbstberichtete Hörbeeinträchtigung (DOGS) und Erholung im Grünen außerhalb der unmittelbaren Wohnumgebung (SAVE) als Drittvariablen in die Regressionsmodelle aufgenommen. Ausgewählte Ergebnisse: 236 (20%) der 1191 DOGS-Probanden und 70 (27%) der 264 SAVE-Probanden schätzten ihren Gesundheitszustand als schlecht ein. In beiden Studien gehörte ungefähr die Hälfte der Probanden der Referenzgruppe an die Verteilung der Probanden auf die Risikogruppen zeigte eine Divergenz zwischen objektivem und subjektivem Indikator wohnkontextueller Lärmexposition. So waren ca. 13% der DOGS- und SAVE-Probanden in Risikogruppe 3. Im Vergleich zur Referenzgruppe war die Chance in Risikogruppe 1 um 1,35-fach (95% CI = 0,95 – 1,90) in DOGS und 1,62-fach (95% CI = 0,81 – 3,23) in SAVE erhöht. Unter DOGS-Probanden vermittelte starke Lärmbelästigung zudem statistisch den Zusammenhang zwischen objektiver Lärmbelastung und subjektiver schlechter Gesundheit (OR = 1,96 95% CI 1,07 – 3,60 für Risikogruppe 2 und OR = 1,85 95% CI = 1,20 – 2,84 für Risikogruppe 3), während starke Lärmbelästigung unter SAVE-Probanden diesen Zusammenhang tendenziell verstärken könnte (OR = 3,18 95% CI = 1,29 – 7,85 für Risikogruppe 3). Selbstberichtete Hörbeeinträchtigung veränderte die DOGS-Ergebnisse nicht. Erholung im Grünen verringerte den geschätzten Effekt objektiver Lärmbelastung auf subjektive Gesundheit unter SAVE-Probanden deutlich. Diskussion: Wenn Studienergebnisse nur auf objektiven oder subjektiven Indikatoren wohnkontextueller Lärmexposition basieren, ist Vorsicht geboten, da lärmbedingte Gesundheitseffekte unterschätzt werden könnten. Analysen und Interventionen im urbanen Wohnkontext sollten Lärmbelastung und Lärmbelästigung als physikalische und psychosoziale Stressoren integriert untersuchen. Die Bevölkerungsgesundheit könnte davon profitieren, wenn Interventionen umweltbezogenen Stressoren mit der Förderung von Ressourcen in der Wohnumgebung begegnen und BewohnerInnen in der Aneignung stressreduzierender Bewältigungsstrategien (Erholungshandeln) unterstützen. Jedoch bedarf es weiterer (longitudinaler) Studien, um zu gesicherten Ergebnissen zu gelangen.