Gesundheitswesen 2013; 75 - A24
DOI: 10.1055/s-0033-1354017

Workshop Geschichte der Sozialmedizin: Gesundheitsauswirkungen von Arbeitslosigkeit: ein Public-Health-Problem damals wie heute

A Hollederer 1
  • 1Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL), Erlangen

„Arbeitslosigkeit: Ein Problem der Volksgesundheit“ lautet der Titel einer „Denkschrift für die Regierung und Parlamente“ in Deutschland. Dabei handelt es sich um eine weitgehend in Vergessenheit geratene Sammlung sozialmedizinischer Gutachten von 1931. Der Arzt und Parlamentarier Julius Moses (1931) veröffentlichte sie in der Weimarer Republik unter dem Eindruck der Massenarbeitslosigkeit während der ersten Weltwirtschaftskrise. Er resümiert, dass „Arbeitslosigkeit als sozialer Krankheitsfaktor gleichzeitig auch ein medizinischer Krankheitsfaktor“ ist. Diese Publikation von Moses steht in einer langen Tradition der Sozialmedizin bzw. Sozialhygiene. In der Weimarer Republik richteten die Sozialhygieniker ihre Aufmerksamkeit auf die Pathogenität der sozialen Umwelt (vgl. Grotjahn 1912 Mosse & Tugendreich 1912). Arbeitslosigkeit wurde damals im Zuge der Industrialisierung zu einem zentralen Problem vieler Volkswirtschaften und ist es auch noch in der Gegenwart in vielen Ländern. Die „Denkschrift“ von Moses (1931) erschien bereits zwei Jahre vor dem heute noch weltbekannten Klassiker „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel, die die Auswirkungen und psychosozialen Belastungen von Arbeitslosigkeit auf ein ganzes Gemeinwesen untersuchten (Jahoda et al. 1933/1975). Die Erfahrungen von Langzeitarbeitslosigkeit waren damals von den direkten Folgen extremer Armut geprägt. Mit Bezug auf die Marienthal-Studie und weitere Forschungsarbeiten beschrieben Eisenberg und Lazarsfeld (1938) wenig später ein erstes grundlegendes Phasenmodell für das Erleben von Arbeitslosigkeit. Fünf Perioden sozialwissenschaftlicher Forschung lassen sich seitdem in den westlichen Industrieländern laut Mohr (2010) unterscheiden: 1. Die Periode in den 30er und 40er Jahren, die sich durch die klassischen Arbeiten zu Typologien und Phasenmodellen auszeichnet. 2. In der Periode der 70er Jahre kam es erneut zu vermehrter Arbeitslosigkeitsforschung, insbesondere methodisch dominierten Querschnittstudien, die zunehmend verschiedene Stichproben untersuchten. Arbeitslosigkeit wurde als kritisches „life-event“ bzw. plötzlich auftretender Verlust betrachtet. 3. In den 80er Jahren nahmen Längsschnittstudien und die Wahrnehmung des Prozesscharakters von Arbeitslosigkeit zu. Parallel wurden auch die Folgen für mittelbar Betroffene untersucht. 4. In den 90er Jahren wurde das Forschungsinteresse auch auf den Zeitpunkt vor der Arbeitslosigkeit und damit auf die „Noch-Beschäftigten“ und auf Arbeitsplatzunsicherheit ausgeweitet. 5. Die gegenwärtige Phase betrachtet nicht nur bezahlte Erwerbsarbeit, sondern sucht auch Antworten auf die Frage, welche Arbeit für Menschen gut ist. Sie vergleicht Erwerbsarbeit mit Erwerbslosigkeit, unsicheren Arbeitsverhältnissen und Unterbeschäftigung. Als 6. Phase könnte noch die aktuelle Entwicklung der „arbeitsmarktintegrativen Gesundheitsförderung“ für die Zielgruppe der Arbeitslosen ergänzt werden (Hollederer, 2011). Die Qualität und Methodik der Studien nahm im Zeitlauf stark zu ebenso wie die Zahl der empirischen Studien, während die Theorienentwicklung und Rahmenkonzepte dagegen nicht in diesem Maße Schritt hielten. Dass sich Langzeitarbeitslosigkeit als Determinante auf die Gesundheit auswirkt und die Gesundheitspolitik wenig Einfluss nimmt, erkannte Moses bereits 1931. Er beklagte, dass „wie die Sozialversicherung als Ganzes die Arbeitslosenfürsorge ein Teil der öffentlichen Gesundheitspolitik“ ist und dass „diese gesundheitliche Bedeutung der Arbeitslosigkeit leider von der Gesetzgebung nicht beachtet wird“. Für Moses war die Arbeitslosigkeit ein Problem der Ökonomie und zugleich der Volksgesundheit, allerdings wird „das gesundheitlich so bedeutsame Arbeitslosenproblem ausschließlich von wirtschaftlichen und finanziellen Gesichtspunkten behandelt“ – damals wie heute!