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DOI: 10.1055/s-0033-1343018
Neue Impulse
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
20. März 2013 (online)
Blick über den Tellerrand
In der Reihe „Klinische Sozialarbeit“ des Psychiatrie Verlages ist der fünfte Jahresband erschienen. Die Themenwahl „Psychosoziale Diagnostik“ ist Beleg für deren Bedeutsamkeit und Aktualität.
In der jungen Tradition der theoriebasierten oder gar der wissenschaftlich fundierten Arbeit hat die Pflege häufig gute Erfahrungen gemacht, wenn sie Inputs aus anderen Disziplinen holte. Pflegediagnostik will die Auswirkungen von Krankheit oder Vulnerabilität beschreiben, explizit auch in psychosozialer Hinsicht. In den meisten psychiatrischen Arbeitsfeldern sollten Assessmenteinschätzungen und Diagnostik multiprofessionell abgestimmt werden. Zwei gute Gründe also für die These, dass dieses Buch auch für die Pflege spannend sein könnte.
Der vorliegende Sammelband beschreibt und diskutiert theoretische Konzepte psychosozialer Diagnostik und stellt dann verschiedene Methoden dar. Ein dritter Buchteil widmet sich der praktischen Umsetzung der Methoden in unterschiedlichen Settings.
Es zeigt sich, dass Soziale Arbeit und Pflege bezüglich der Diagnostik der Hilfebedarfe deutliche Parallelen haben: Die Notwendigkeit einer eigenständigen Diagnostik (neben der medizinischen und psychologischen) wird zwar nicht mehr in Frage gestellt, aber es scheint immer noch nötig, explizit darauf hinzuweisen. Inhaltlich geht es beiden Professionen um die Erfassung individueller Ressourcen, vorhandener Einschränkungen und Belastungen. Beide Professionen stehen noch am Anfang der Entwicklung konsentierter und validierter Verfahren.
Schnell zeigt sich auch, dass das Buch der Pflege Impulse geben kann. Denn die Soziale Arbeit hat einige Prinzipien verinnerlicht, die in gleicher Deutlichkeit der Pflege zu wünschen wären. Das Buch betont, dass Diagnostik nur dialogisch möglich ist. Dass die Selbstdeutungsmuster der Betroffenen gleichberechtigt neben den Problemdefinitionen der Profis sind. Und dass alle Phänomene konsequent vor dem Hintergrund der vorhandenen sozialen und ökonomischen Strukturen betrachtet werden müssen.
Im Theoriediskurs geht es um die Integration des rekonstruktiven und des rekonstruktivem Ansatzes in der psychosozialen Diagnostik. Der rekonstruktive Ansatz meint die flexible, situations- und interaktionsabhängige Informationssammlung im alltagsnahen Gespräch, sie will die subjektiven und biografischen Erfahrungen des Klienten verstehen.
Im klassifikatorischen Ansatz sind Methoden und Begriffe standardisiert (Klassifikationen für die Soziale Arbeit sind aktuell noch nicht entwickelt, daher werden nur Anforderungen an Klassifikationen vorgestellt). Beide Ansätze sind für die psychosoziale Diagnostik vonnöten, beide Ansätze bergen – unprofessionell angewendet – hohe Risiken für Fehlinformationen über den Klienten. Auch Psychiatrische Pflege muss beide Ansätze verbinden; doch aktuell scheint nur der klassifikatorische Ansatz im Bewusstsein vieler Pflegepraktiker zu sein.
Wer sich mit dem Thema Pflegediagnostik auseinandersetzen will, erhält in den breit angelegten, qualifizierten Beiträgen dieses Sammelbandes sehr gute Impulse. Das Buch zeigt, welche Prinzipien psychosozialer Diagnostik in welcher Situation sinngebend sind und reflektiert sehr sorgsam Limitationen oder mögliche Nachteile. Die vorgestellten Inhalte der psychosozialen Diagnostik (wie Ressourcenorientierung, subjektive Perspektiven und Möglichkeiten oder Begrenzungen bezüglich Inklusion/Teilhabe) belegen die „recoveryorientierte“ Grundhaltung der Autoren. Konkrete Anleitungen oder standardisierte Verfahren oder andere Arbeitsmaterialien hingegen finden sich wenige.
Ja – der Blick über den Tellerrand lohnt!
Dorothea Sauter, Münster