Klinische Neurophysiologie 2013; 44 - P15
DOI: 10.1055/s-0033-1337156

Neuronale Korrelate der gestörten facialen Emotionserkennung bei Kleinhirnläsionen

M Adamaszek 1, S Olbrich 2, F D'Agata 3, S Langner 4, C Kessler 1, A Hamm 5
  • 1Universität Greifswald, Klinik für Neurologie, Greifswald, Deutschland
  • 2Universität Leipzig, Klinik für Psychiatrie, Leipzig, Deutschland
  • 3AOU San Giovanni Battista Turin, Dept. of Neurosciences, Turin, Deutschland
  • 4Universität Greifswald, Institut für Diagnostische Radiologie und Neuroradiologie, Greifswald, Deutschland
  • 5Universität Greifswald, Institut für Psychophysiologische und Klinische Psychologie, Greifswald, Deutschland

Einleitung: Klinische Studiendaten verweisen auf einzelne Leistungsmerkmale des Kleinhirns innerhalb emotionaler Prozessebenen, welche der sozialen Kognition zugeordnet werden. Zur gesonderten Analyse der cerebellaren Funktionsmechanismen innerhalb dieser Prozessebenen wurden Ereignis-korrelierte Potentiale (ERP) der Erkennung varianter emotionaler Gesichtsausdrücke bei Kleinhirninfarkten untersucht. Methoden/Material: Zur klinischen Erfassung der Diskrimination emotionaler Gesichterausdrücke wurden neun Patienten mit cerebellaren Infarkten (6 Patienten unilateral, 3 Patienten bilateral) und neun Patienten mit einem vergleichbaren vaskulären Risikoprofil mit den Subtests 1 – 5 der Tübinger Affekt-Batterie (TAB) untersucht. Zur Evaluation der neuralen Merkmale der emotionalen Gesichtererkennung wurden die frühen und späten ERP für 120 farbige Gesichterabbildungen mit fünf unterschiedlichen Basisemotionen (neutral, fröhlich, ärgerlich, ängstlich, traurig) aus der Karolinska Directed Emotional Faces Database (KDEF) aufgezeichnet, welche in Berücksichtigung der ökologischen Validität pseudorandomisiert für 1200 ms innerhalb einer Abfolge von 579 Bildern unterschiedlicher emotionaler und nicht-emotionaler Szenen aus dem International Affective Picture System (IAPS) präsentiert wurden. Die ERP wurden mit einem hochauflösenden EEG-Sensornetz (129 channels) aufgezeichnet. Ergebnisse: Patienten mit einer Kleinhirnläsion wiesen klinisch Defizite in der Zuordnung visueller Gesichtsausdrücke (Subtest 5 der TAB; p = 0,042) auf. In dem ERP-Paradigma zeigten beide Patientengruppen für die frühe neutrale als auch emotionale Gesichtererkennung eine verstärkte N170. In der späten Phase der Gesichterkennung wies die Kontrollgruppe eine verstärkte späte Positivierung (late positive potentials; LPP) parietal für positive und negative gegenüber neutralen Gesichtsausdrücken um 600 ms auf, die Patienten mit einem Kleinhirninfakt hingegen nicht. In den Einzelanalysen war diese bei den Kleinhirninfarkten fehlende Potentialantwort signifikant für Furcht (p = 0,034) und Ärger (p = 0,049). Entsprechend der Dipolanalysen wurden bei den Kleinhirninfarkten die LPP für die Emotion Furcht inferior präfrontal links und für die Emotion Ärger neben superior temporal vor allem dorsofrontal generiert, während bei den Kontrollen die Generatoren der LPP für Furcht inferior präfrontal rechts und für Ärger superior temporal lokalisiert wurden. Neben dem Infarktvolumen ergab sich für die LPP eine signifikante Korrelation zum Crus I des Lobulus VII. Diskussion: Die klinischen und neurophysiologischen Ergebnisse vor allem der gestörten Erkennung negativer Gesichtsausdrücke bei Patienten mit einem Kleinhirninfarkt lassen auf eine spezifische cerebellare Komponente in der höhergeordneten Prozessierung sozialer Informationen schließen. In Berücksichtigung der unterschiedlich höheren, mutmaßlich kompensatorischen Aktivierungen des präfrontalen Cortex, und des Crus I als wesentlicher Störungsbereich innerhalb der Patientenstichprobe, weisen unsere Ergebnisse auf eine topographische Organisation mit einer spezifischen und eben keiner generellen Funktion des Kleinhirns in der Emotionsprozessierung.