Gesundheitswesen 2013; 75(03): 125-126
DOI: 10.1055/s-0033-1333775
Gasteditorial
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Der Fluglärm – Katalysator basisdemokratischer Dynamik·

P. U. Unschuld
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Publication Date:
20 March 2013 (online)

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Prof. Dr. phil. Paul U. Unschuld, M.P.H.

Es ist unbestritten: Fluglärm macht Betroffene krank. Die vorhandenen Studien sind aussagekräftig genug. Die Details müssen hier nicht noch einmal aufgezählt und wiederholt werden. Wer Gelder für weitere Studien zur Bestätigung des bereits Bekannten ausgeben möchte, kann dies tun. Ob deren Ergebnisse noch die eine oder andere Milderung der bisherigen Forschungserkentnisse bringen werden, ist im Grunde unerheblich, denn das Problem des Fluglärms hat mittlerweile die Arena der Auseinandersetzung zwischen Gesundheitsexperten über das Ausmaß nachweislich pathogener Auswirkungen verlassen. Es ist in das Bewusstsein einer weiten Öffentlichkeit eingedrungen. Dieses Bewusstsein wird sich nicht mehr durch Beschwichtigungsversuche auf der Grundlage statistischer Rafinessen beruhigen lassen. Dieses Bewusstsein wird auch nicht mehr in erster Linie durch Studienergebnisse beeinflusst werden, sondern durch die anhaltende, gefühlte Belästigung.

Die Betroffenen fühlen eine reale Einschränkung ihrer Lebensqualität. Die Aufmerksamkeit, die dieser Einschränkung zuteil wird, ist das Ergebnis einer Sensibilisierung, die mittlerweile in Bürgerinitiativen ihren organisatorischen Rahmen gefunden hat. Sollte jemand darauf gehofft haben, dass ein Gewöhnungseffekt die Aufmerksamkeit der Bürger verringern werde, so ist dies ein Fehlschluss. Die Schallwellen mögen nur in einem begrenzten Korridor unerträglich erscheinen; sie wirken sich politisch auf die Bewohner größerer Räume aus. Die organisatorische Kraft der Bürgerinitiativen trägt die Schallwellen gleichsam über die statistisch belegbaren Korridore hinaus und lässt sie auch dort im politischen Bewusstsein wirksam werden, wo die Studien kaum noch Wirkungen auf den physisch greifbaren Organismus der Menschen aufzuzeigen imstande sind.

Wie unabhängig die Einstellung zu Fluglärm von der realen Belästigung der Betroffenen sein kann, hat das Abstimmungsverhalten gezeigt, das zur Schließung des Berliner Flughafens Tempelhof geführt hat. Die unmittelbaren Anwohner haben die Schließung verweigert, weil der Nutzen und der psychologische Wert des „Blockadebrecher“-Flughafens den Fluglärm in den Hintergrund gedrängt hat. Je weiter entfernt im Osten der ehemals geteilten Stadt die Menschen wohnten, umso mehr haben sie dafür votiert, dieses Symbol von der Landkarte zu tilgen, obschon keinerlei Fluglärm zu ihnen drang. Die auf die Erzeugung reiner Neidgefühle ausgelegte Werbekampagne der Berliner Senatsparteien und verbündeter politischer Gruppierungen zur Schließung des Flughafens mag die gegen Tempelhof ge­richteten Emotionen im Osten noch verstärkt haben. Indem sich größere Bevölkerungskreise im Umkreis der Flughäfen Frankfurt/M, München-Erding und Berlin-Schönefeld gegen den Fluglärm, der an diesen Standorten durch neue Lande- und Abflugbahnen vermehrt erzeugt werden wird, erheben, geben sie einem über die betroffenen Korridore hinaus verbreiteten Bewusstsein Ausdruck, von den Verantwortlichen übergangen, betrogen und vor allem getäuscht worden zu sein in ihrem Vertrauen in die Erfüllung der Fürsorgepflicht, die den Behörden als staatlichen Institutionen obliegt.

An den Planungsschritten im Zusammenhang mit dem Ausbau des Flughafens Berlin-Schönefeld ist dies modellhaft zu sehen. Die Bevölkerung wurde – allem Anschein nach bewusst – getäuscht. Bestimmte Regionen wurden lange Zeit als außerhalb der Lärmkorridore gelegen bezeichnet, ehe sie dann doch als notwendig ausgewiesen wurden. Fragestellern, die in diesen Re­gionen sich niederlassen wollten, haben schriftlich die Versicherung erhalten, dass ihr Bauplatz nicht vom Fluglärm betroffen sein werde, und haben im Vertrauen darauf ihr Geld in ein Haus investiert. Erst kurz vor der – wie man heute weiß: fälschlichen – Gewissheit der Planer, dass der Flughafen bald seinen Betrieb aufnehmen werde, gelangten die Tatsachen an die Öffentlichkeit. Hier nun mit den sogenannten Schallschutzmaßnahmen Abhilfe zu versprechen, ist wenig hilfreich, um die Empörung zu lindern. Dieser Schallschutz schafft selbst wiederum unzumutbare Lebensbedingungen in Häusern, in Schulen und in Betrieben und lässt die Verhältnisse im freien Raum außerhalb der Gebäude, wo man sich schließlich auch aufhalten möchte, völlig außer Acht. Aber es geht eben längst nicht mehr nur um den Lärmpegel selbst.

Es geht darum, deutlich sichtbare Hinweise zu geben, dass die „Obrigkeit“ in ihrer Selbstherrlichkeit in die Schranken zu weisen ist. Wir leben im Jahre 2013, nicht mehr im Jahre 1913 oder 1953. Diese zeitliche Entfernung sei hier aus 2 Gründen angeführt. Zum einen sollte es die vor einhundert Jahren noch strenge Abgrenzung zwischen „denen da oben“ und „denen hier unten“ nicht mehr geben. Wo solche Allüren der Behörden und politischen Instanzen erkennbar werden und sich in konkret wahrgenommenen Nachteilen größerer Bevölkerungsgruppen auswirken, da kommen basisdemokratische Bewegungen in Gang. Der Fluglärm bewirkt solche konkret wahrzunehmenden Nachteile. Die Betroffenen fühlen sich übergangen und betrogen.

Aber es hat noch eine weitere grundsätzliche Veränderung stattgefunden. Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte hat sich eine Phase abgeschwächt und ist nun, deutlich sichtbar am Beispiel der Flughafenplanungen, zu Ende gegangen, in der die Politik Rücksicht auf die Gesundheit der Bevölkerung nehmen musste, weil diese Gesundheit das Mittel zum Zweck des starken Staates war. Die Stärke des Nationalstaates zeigte sich zunehmend im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in seiner militärischen Stärke und in seiner industriellen Produktivkraft. Für beides benötigt der Staat eine möglichst gesunde Bevölkerung – unabhängig von gesellschaftlicher Schicht, Bildung und Einkommen. Diese Zeit ist nun vorbei. An die Stelle der Massenheere sind kleine Krisenreaktionskräfte hochspezialisierter Experten getreten. Die industriellen Arbeitsplätze sind großenteils verschwunden. Der Nationalstaat hat – vermeintlich – keine Existenzberechtigung mehr; er konkurriert nicht mehr mit Nachbarstaaten. Das hat seine Auswirkungen auf den Wert der Gesundheit als politischer Größe. Gesundheit ist wieder Selbstzweck jedes Einzelnen geworden; wer sich darum bemühen kann und will, wird dies entsprechend seiner finanziellen Möglichkeiten tun. Der Staat aber kann nun planen allein mit Rücksicht auf ökonomischen Nutzen, ohne Rücksicht auf die Gesundheit der durch diese Planungen Betroffenen [1].

Hier liegt die Ursache für die Indifferenz der Behörden gegenüber den gesundheitlichen Auswirkungen der Belastung dichtbesiedelter Regionen durch den Fluglärm. Die Gesundheit der Betroffenen bringt keinen politischen Vorteil; die 2, 3 min, um die die Flugzeit von Berlin-Schönefeld nach Ostasien verkürzt wird, wenn die Maschinen über dichtbesiedelte Gebiete Berlins und Brandenburgs fliegen anstatt um Potsdam und Berlin herum, bringen einen angeblich relevanten wirtschaftlichen Vorteil. Die Vermutung, dass das Kranksein selbst auch wiederum in der heutigen „Gesundheitswirtschaft“, die das Gesundheitswesen früherer Zeiten abgelöst hat, einen kommerziellen Vorteil vor der Gesundheit hat, mag in höchstem Maße zynisch erscheinen, ist aber nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Im Bewusstsein der Bevölkerung ist diese Veränderung der Sachlage noch nicht angekommen. Die vergangenen 150 Jahre, in denen die Politik erstmals in der Geschichte der europäischen Kultur eine Verantwortung für die Gesundheit der Gesamtbevölkerung wahrgenommen hat, haben in der Bevölkerung ein Vertrauen in die Fürsorgepflicht der Behörden entstehen lassen, das immer noch andauert – und nun nur noch begrenzt berechtigt ist. Die Diskrepanz zwischen dem vertrauensvollen Blick der Bevölkerung auf die Behörden einerseits und deren am Beispiel der Flugrouten- und Start-/Landebahn-Planungen erkennbaren andersgearteten Interessen andererseits ist verstörend und führt zu Empörung mit dem Ergebnis basisdemokratischer Aktivitäten.

Es wird sich zeigen, wer hier der Stärkere ist. Bürgerinitiativen sind ein schwieriges politisches Terrain. Es fehlt ihnen die organisatorische Routine der Parteien; es fehlt ihnen die bürokratische Strategie der Behörden. Bürgerinitiativen vereinen in der Regel Menschen mit großem, problemspezifischem Sachverstand mit anderen, die sich allein aus dem Gefühl heraus der Bewegung anschließen. Bürgerinitiativen können von charismatischen Einzelpersonen angeführt werden, sie können aber auch zum Marktplatz der Eitelkeiten mit entsprechenden Dynamiken werden. Schließlich kommt hier nicht selten auch derjenige zu Wort, der sonst nie gehört wird. Wenn sich somit die Behörden im Verein mit Investoren und anderen, die allein oder in erster Linie die wirtschaftlichen Belange der Flugrouten und Start-/Landebahn-Planungen im Auge haben, einerseits und die Bürgerinitiativen heterogener Zusammensetzung andererseits gegenüberstehen, dann ist dies Ausdruck einer grundsätzlichen Störung im Verhältnis der Regierenden und der Regierten. Der Zustand dieses Verhältnisses entscheidet über die Stabilität unserer Gesellschaft und des politischen Systems, in dem wir leben. Wenn auch den Behörden an der Stabilität dieses Systems liegt, dann liegt es in deren Händen alles zu vermeiden, was in der Bevölkerung ein Gefühl des Übergangenwerdens und des Betrogenwerdens erzeugt. Vor allem aber gibt es auch heute noch gute Gründe, die Fürsorgepflicht nicht zu vernachlässigen.

 
  • Literatur

  • 1 Paul U. Unschuld, Ware Gesundheit. Das Ende der klassischen Medizin. C. H. Beck, 2. erw. Auflage 2011